Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika (German Edition)
– oder auf der Toilette. In unserer Straße gab es die meisten Verhaftungen pro Jahr in ganz London. Man sagte, dass die Feuerwehr es für zu gefährlich hielt, hier entlang zu fahren. Versicherungen lehnten es ab, diese Gegend zu versichern. Dealer verkauften Dope in kleinen Plastiktüten aus unserem Vorgarten, und unsere Fenster klapperten beim Klang vorbeifahrender Autos mit aufgedrehten Radios. Hardchore Tekkno und Ragga von Piratensendern. Kantige, aggressive, industrielle Sounds mit einem Schuss Großstadt-Psychose. Man hörte den dröhnenden Bass, bevor man die Autos sah. Hinter dem Haus verlief eine Eisenbahnlinie so nah, dass wir die Titel der Zeitungen lesen konnten, die die Fahrgäste lasen.
Unser Nachbar war ein Gebrauchtwagenhändler. Eines Nachts kletterte der Schäferhund des Gebrauchtwagenhändlers über unsere Gartenmauer. Leider reichte seine Kette nicht bis zum Boden, und so sahen wir vom Fenster aus zu, wie er seinen Hals wand und sich selbst erdrosselte. Er zappelte so wild herum, dass wir ihn nicht retten konnten.
Der Mann vom Tierkörperbeseitigungsdienst, der den Körper abschnitt, fand zwei Kühlschränke, einen Sessel und ein Sofa in unserem Garten, verborgen unter Unkraut, das bis zum ersten Stock reichte. Wir hatten den Garten schon lange aufgegeben – die Eisenbahn nahm uns sowieso die Sonne. Der Gebrauchtwarenhändler schloss bald danach. Schließlich zog Mark wieder nach Kent um, um von den „trendigen Nordlondonern“ wegzukommen. Ich zog mit einer Truppe Musikern zusammen in ein Haus in Finsbury Park.
Eines Tages ging ich zu meiner Arbeit bei der TV-Zeitschrift, nachdem ich mich eine Woche krank gemeldet hatte. Ich hatte die typische „Panda-Bär-Bräunung“, die man beim Schifahren mit Sonnenbrille in den französischen Alpen bekommt. Ich hatte meinen Plan für idiotensicher gehalten. Öffentliche Telefone in Frankreich haben keinen „Klick“, an dem man sie von einem Privattelefon unterscheiden kann. Ich hatte einen Schal ums Gesicht gewickelt, um eine Bräunung zu vermeiden. Meine einzige Sorge war das gelegentliche Rufen von Schifahrern, die an der Telefonzelle vorbeikamen. Es war aber abartig heiß, sodass ich durch den Schal hindurch braun wurde. Mein Herausgeber stellte klar, dass eine Beförderung nicht zu erwarten wäre. Es wurde Zeit für die lange Reise, die ich mir immer versprochen hatte.
Am Tag vor meiner Abreise starb jemand an einem Messerstich durchs Auge, am helllichten Mittag auf einem belebten Bahnsteig der U-Bahnstation von Finsbury, gerade mal 400 Meter von meiner Haustür entfernt. Der Täter war ein Patient der Psychiatrie gewesen, den man im Rahmen der Initiative der konservativen Regierung für Geisteskranke („Pflege in der Gemeinde“) hinausgeworfen hatte. (Die Initiative war eine allzu offensichtliche Tarnung für Kostensenkungen im Gesundheitsbereich.) An diesem Morgen hatte er vergessen, seine Medizin zu nehmen. Später war er über seine eigene Tat entsetzt. Wenn ich jemals Zweifel an meinen Reiseplänen gehabt hatte, waren sie damit endgültig ausgeräumt. Südamerika konnte kaum heruntergekommener und gefährlicher sein als London, und wenn irgendein Wahnsinniger mich mit einem 25 cm langen Messer durchs Auge stechen würde, wollte ich vorher wenigstens noch etwas von der Welt sehen.
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Inner City Blues ( die graue Politik )
Reiseschriftsteller packen gern einen längst vergessenen Band eines unbedeutenden Forschers aus dem 19. Jahrhundert ein, um bei passender Gelegenheit daraus zu zitieren. Ich habe schon viele Bücher über Südamerika gelesen: Vor, während und nach meiner Reise. Ich las Bücher über die Rolle des Urins in der Symbolik der amerikanischen Ureinwohner und andere über den rituellen Gebrauch halluzinogener Einläufe im Amazonasgebiet. (Halluzinogene Einläufe? Keine schlechte Idee!) Aber das Buch, das ich unterwegs bei mir hatte, war Eduardo Galeanos neomarxistischer 93 der gringo trail Klassiker, Open Veins of Latin America („die offenen Adern Lateinamerikas“) – ein Buch, das zugleich grausam, akademisch und poetisch ist. Anstatt von viktorianischen Harrison Fords zu erzählen, die sich zu verlorenen Städten durchschlagen, mutete ich Melissa Vorträge über den Preis peruanischen Nitrats auf den Rohstoffmärkten des 19. Jahrhunderts zu. Sie konnte damit umgehen. Politik hatte mich schon immer interessiert. Das bestätigte sich, als ich einem ehemaligen Mitschüler der Grundschule
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