Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika (German Edition)
Ufer und schuf so einen lebendigen Tunnel aus Pflanzen. Auf dem Boden, unter dem schattigen Blätterdach der großen Bäume, war der Waldboden überraschend offen und leicht begehbar. Den Weg zu finden war aber etwas ganz anderes.
„Verlauft ihr euch denn nie?“, fragte ich Laureano, nachdem wir ihm den ganzen Morgen durch ein endloses Labyrinth von scheinbar ununterscheidbaren Bäumen gefolgt waren. „Ja, manchmal. Aber früher oder später stoße ich immer auf einen Baum, den ich erkenne. Zum Beispiel der große dort. Genau wie ihr ein Gebäude in einer Stadt erkennt. Für mich sehen die nämlich alle gleich aus.“
Hier sind Bäume alles: Nahrung und Unterkunft, Medizin und Wegweiser. Wir gewöhnten uns daran, ständig im Wald zu sein. Wie es wohl wäre, ein ganzes Leben dort zu verbringen? Zu leben und zu sterben ohne jemals einen weiten Horizont in der Ferne oder einen offenen Raum zu sehen, der breiter wäre als ein Fluss – oder größer als eine Lichtung?
Laureano und Delfin zeigten uns, wie Pflanzen alles liefern konnten, was sie benötigten: Essen, Medizin, Werkzeuge, Unterkunft, Feuer, Seile, Körbe, Dekorationen, Kleider. Viele medizinische Pflanzen sahen den Körperteilen ähnlich, die sie heilten. Eine, die man zur Behandlung von Arthritis verwendete, hatte auf der halben Länge des Stamms einen Knoten, der aussah wie ein Ellenbogen- oder Kniegelenk. Eine weitere Pflanze, die man (so Laureano) zur Haarpflege verwendete, bestand aus einer Masse dicker und pelziger Wurzeln, die aussahen wie Dreadlocks.
Wir lernten, mit Speeren zu fischen und Korbdächer aus gigantischen Blättern zu weben. Wir schossen mit Blasrohren. Ich staunte über deren Präzision; es gelang mir, beim ersten Schuss auf 20 Schritt Entfernung eine Orange zu treffen. Beim nächsten Versuch versuchte ich, Melissa zu überreden, sie auf ihrem Kopf zu balancieren. Neonblaue Schmetterlinge flogen vorbei, die so groß waren wie meine Hand. Lichtstrahlen fielen durch das Blätterdach des Waldes wie Strahlen in einer gotischen Kathedrale.
Ameisenhaufen von der Größe eines Autos sendeten gewaltige Tentakel von fleißigen, blattschneidenden Arbeitern aus – Insekten-Autobahnen, die aus der zentralen Megastadt des Nestes ausstrahlten und Wege durch die verhedderten Abfälle herabgefallener Vegetation auf dem Waldboden bahnten.
Jede Fläche war lebendig. Spinnennetze waren zwischen Blättern ausgespannt. Jeder zerfallende Ast oder Baumstamm war ein durchnässter Nährboden für Insekten und Raupen oder Pilze. Der gesamte Wald war ein riesiger, fruchtbarer, lebendiger Organismus, in dem nichts verschwendet wurde und jedes abgestorbene Teil Nahrung für neues Leben war. Sogar jetzt in der Trockenzeit fühlte sich alles nass an.
In der Nacht, nach einer Mahlzeit aus frisch gefangenem Fisch, Bananen und Reis, lagen wir unter unseren Moskito-Netzen und lauschten dem elektrischen Summen der Insekten. Das Quaken von Fröschen und die Musik fremdartiger Vögel umspielte unsere kleine Plattform und spülte wie eine rollende Brandung über uns hinweg. Ein Vogel klang genau wie ein Telefon. Ein- oder zweimal erwachte ich und zuckte zusammen, da ich mich zu Hause glaubte – um dann aber festzustellen, dass ich mich mitten im Dschungel befand. Äußerst verwirrend. Ein anderer machte ein hohles, hallendes, flüssiges „Ka-Plopp“, wie ein Kieselstein, den man in einer Höhle ins Wasser wirft.
Unsere zweite Nacht war Sylvester, was wir, um eine flackernde Kerze sitzend, mit ein paar Flaschen Aguardiente feierten, die wir extra für diese Gelegenheit gekauft hatten. Mitternacht ging vo-rüber. Alle schliefen – außer Mark und mir. Mark ging spazieren. Nach einer Weile kam er zurück und winkte mir, ihm auf dem Pfad in den Wald zu folgen. Beim Gehen spürte ich die uns umfangende Gegenwart von millionen Pflanzen. Ich zögerte, da ich befürchtete, dass Schlangen und Jaguare in der Nähe sein konnten.
Aber Mark war bereits ein Stück weiter den Pfad entlang gegangen, der vom flachen Hügel, auf dem unser Camp stand, abwärts verlief. Wir gingen weiter, bis das Mondlicht von unserer Lichtung nicht mehr durch den Wald drang. Dunkelheit.
„Vielleicht ist das meine Aufgabe auf dieser Reise. Dich ein kleines bisschen weiter zu treiben“, flüsterte Mark aus der Schwärze neben mir. Der Wald knisterte von Zikaden und Vogelrufen. Die Pflanzen wiegten sich sanft. Ich fühlte mich, als wenn wir in eine riesige Lunge gegangen wären
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