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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Gebäude, auf das ihr eigenes Haus herunterschaute, von einem Bauunternehmer gekauft worden war. Dieser hatte vor, es abzureißen und einen Wolkenkratzer zu errichten, der ihnen jegliches Licht und jegliche Luft nehmen würde. Damit war die Wohnung unverkäuflich geworden. Und jetzt, zwei Jahre später, hatte der Wolkenkratzer endlich begonnen zu wachsen, was Alex mit Angst und Untergangsgefühlen, aber auch mit einer schwindelerregenden Wehmut erfüllte – jeder Moment warmen Sonnenlichts durch ihre drei nach Osten gerichteten Fenster kam ihm köstlich vor, und dieser Splitter aus funkelnder Nacht, den er jahrelang von einem Kissen auf der Fensterbank aus beobachtet hatte, oft, während er einen Joint rauchte, erschien ihm jetzt als quälend schön, als Trugbild.
    Alex liebte die totenstille Nacht. Ohne den Lärm von Bauarbeiten und den allgegenwärtigen Hubschraubern eröffneten sich seinen Ohren ganz von selbst verborgene Klangportale: das Pfeifen des Teekessels und das Getrappel von Sandra, der alleinstehenden Mutter, die in der Wohnung über ihnen lebte, ein Hummelbrummen, das Alex ihrem halbwüchsigen Sohn zuschrieb, der wahrscheinlich im Nebenzimmer zu seinem Smartpad onanierte. Von der Straße ein vereinzeltes Husten, Gesprächsfetzen: »… ich soll jemand anders sein, das willst du doch …« und »ob du es glaubst oder nicht, Trinken hält mich rein.«
    Alex stützte sich auf das Kissen und zündete sich einen Joint an. Er hatte den ganzen Nachmittag mit dem – erfolglosen – Versuch verbracht, Rebecca zu erklären, was er Bennie Salazar versprochen hatte. Bennie hatte nichts von »Papageien« gesagt, seit den Bloggerskandalen war es zu einem Schimpfwort geworden. Obwohl politische Blogger inzwischen ihre Geldquellen posten mussten, konnten sie den Verdacht nicht ausräumen, dass die in Umlauf gebrachten Meinungen gar nicht ihre eigenen waren. »Wer hat dich bezahlt?«, war eine Frage, die jeder begeisterten Äußerung folgen konnte, und zugleich wurde man ausgelacht – wer würde sich schon kaufen lassen? Aber Alex hatte Bennie fünfzig Papageien als »authentische« Buschtrommel für Scotty Hausmanns erstes Live-Konzert versprochen, das im folgenden Monat in Lower Manhattan stattfinden sollte.
    Mit seinem Smartpad entwickelte er nun ein System, um unter seinen 15.896 Freunden mögliche Papageien zu finden. Er verwendete drei Variablen: wie dringend sie Geld brauchten (»Bedürftigkeit«), wie gut ihre Beziehungen und wie gut ihr Ruf waren (»Einfluss«) und wie aufgeschlossen sie dafür sein würden, diesen Einfluss zu Geld zu machen (»Bestechlichkeit«). Er wählte einige zufällige Personen aus und sortierte sie in jeder Kategorie auf einer Skala von 10 bis 0, dann trug er die Ergebnisse in eine 3D-Grafik in seinem Smartpad ein, um die Punktebündel, bei denen die drei Linien sich kreuzten, zu finden. Aber jedes Mal folgte auf eine hohe Punktzahl in zwei Kategorien ein ungeheuer schlechtes Ergebnis in der dritten: arme und überaus bestechliche Personen – sein Freund Finn, zum Beispiel, ein gescheiterter Schauspieler und mehr oder weniger Junkie, der auf seiner Site ein Speedballrezept veröffentlicht hatte und im Wesentlichen vom Wohlwollen seiner früheren Kommilitonen am Wesley-College lebte (Bedürftigkeit: 9. Bestechlichkeit: 10), hatte keinen Einfluss (1). Arme, einflussreiche Leute wie Rose, eine Stripperin/Cellistin, deren immer neue Frisuren in gewissen Teilen des East Village sofort kopiert wurden (Bedürftigkeit: 9, Einfluss: 10), waren nicht korrumpierbar (0). Rose hatte auf ihrer Website sogar ein Gerüchtefach, das als inoffizielle Informationsquelle für die Polizei fungierte und wo sie mitteilte, welche Freundin von ihrem Liebsten ein blaues Auge bekommen hatte, wer ein Schlagzeug ausgeliehen und ruiniert hatte, wessen Hund stundenlang im Regen an einer Parkuhr angebunden gewesen war. Es gab einflussreiche und bestechliche Leute wie seinen Freund Max, ehemals Sänger der Pink Buttons, jetzt Windkraftpotentat, dem ein Dreiparteienhaus in Soho gehörte und der jedes Jahr eine Weihnachtsparty mit Unmengen von Kaviar schmiss, während die Leute ihm schon von August an in der Hoffnung auf eine Einladung in den Hintern krochen (Einfluss: 10, Bestechlichkeit: 8). Aber Max war beliebt, weil er reich war ( Bedürftigkeit: 0), und er hatte keinen Grund sich zu verkaufen.
    Alex starrte den Bildschirm seines Smartpads mit großen Augen an. Würde überhaupt irgendwer mitmachen? Und

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