Der größere Teil der Welt - Roman
mit der Fähre nach Staten Island fuhren, weil sie das beide noch nie gemacht hatten, drehte sich Susan plötzlich zu ihm um und sagte: »Lass uns dafür sorgen, dass es immer so bleibt.« Und ihre Gedanken waren in diesem Moment dermaßen miteinander verschlungen, dass Ted genau wusste, warum sie das gesagt hatte: Nicht, weil sie sich an diesem Morgen geliebt oder weil sie zum Mittagessen eine Flasche Pouilly-Fuissé getrunken hatten – sondern weil sie das Vergehen der Zeit gespürt hatte. Und damals ging es Ted genauso, er merkte es am aufgewühlten braunen Wasser, an der Eile von Schiffen und Wind – Bewegung, Chaos überall –, und er nahm Susans Hand und sagte: »Immer. Es wird immer so bleiben.«
Als er vor Kurzem einmal in einem anderen Zusammenhang auf diese Reise zu sprechen kam, hatte Susan ihm ins Gesicht geblickt und mit ihrer neuen sonnigen Stimme gezwitschert: »Bist du sicher, dass ich das war? Ich kann mich an gar nichts erinnern«, und hatte Ted ein flüchtiges Küsschen auf den Kopf verpasst. Gedächtnisschwund, dachte er. Gehirnwäsche. Aber jetzt ging ihm auf, dass Susan einfach gelogen hatte. Er hatte sie fallen lassen und sich aufbewahrt für … ja, für was? Es machte ihm Angst, dass er keine Ahnung hatte. Aber er hatte sie fallen lassen, und jetzt war sie weg.
»Bist du noch da?«, rief Sasha, aber er gab keine Antwort.
Sie riss die Tür auf und steckte den Kopf hinaus. »Da bist du ja«, sagte sie erleichtert. Ted schaute vom Boden her zu ihr auf und sagte nichts. »Du könntest ruhig reinkommen«, sagte sie.
Er kam mühsam auf die Beine und betrat ihr Zimmer. Es war winzig, ein schmales Bett, ein Schreibtisch, in einem Plastikbecher ein Zweig Minze, der den Raum mit seinem Duft erfüllte. Das rote Kleid hing an einem Haken. Die Sonne ging jetzt unter, sie glitt über Dächer und Kirchtürme und gelangte durch das einzige Fenster beim Bett ins Zimmer. Die Fensterbank war voll belegt mit Dingen, die wie Andenken an Sashas Reisen wirkten: eine winzige goldene Pagode, ein Plektrum, eine längliche weiße Muschel. Mitten im Fenster baumelte an einem Bindfaden ein aus einem Kleiderbügel gebogener Ring. Sasha setzte sich auf das Bett und sah zu, wie Ted sich ein Bild von ihren bescheidenen Habseligkeiten machte. Er erkannte mit erbarmungsloser Klarheit, was er am Vortag aus irgendeinem Grund nicht erfasst hatte. Wie einsam seine Nichte in dieser fremden Stadt war. Wie arm.
Als hätte sie seinen Gedanken genau erfasst, sagte Sasha: »Ich lerne eine Menge Leute kennen. Aber es ist nie wirklich von Dauer.«
Auf dem Schreibtisch lag ein kleiner Stapel von englischen Büchern: Die Geschichte der Welt in vierundzwanzig Lektionen; Die reichen Schätze von Neapel. Ganz oben ein abgegriffener Band mit dem Titel Schreibmaschinenkurs.
Ted setzte sich neben seine Nichte auf das Bett und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie fühlten sich unter seiner Jacke an wie Vogelnester. Ein Kribbeln ließ seine Nasenlöcher schmerzen.
»Hör mal zu, Sasha«, sagte er. »Du kannst es allein schaffen. Aber damit machst du es dir unnötig schwer.«
Statt einer Antwort schaute sie die Sonne an. Auch Ted betrachtete durch das Fenster den Tumult aus staubiger Farbe. Turner, dachte er. O’Keeffe. Paul Klee.
An einem anderen Tag über zwanzig Jahre später, nachdem Sasha das College besucht und sich in New York niedergelassen hatte, nachdem sie über Facebook den Kontakt zu ihrem Freund aus Collegetagen aufgenommen und spät (als Beth schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte) geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte, von denen eins leicht autistisch war; als Sasha wie alle anderen war, mit einem Leben, das ihr Sorgen machte und sie auf Trab hielt und ihr manchmal zu viel wurde, besuchte Ted, seit Langem geschieden – und Großvater –, sie in ihrem Haus in der kalifornischen Wüste. Er durchquerte das mit dem Treibgut ihrer kleinen Kinder vollgestreute Wohnzimmer und sah durch eine Schiebetür aus Glas die Sonne im Westen lodern. Und einen Augenblick lang erinnerte er sich an Neapel, wie er bei Sasha in ihrem winzigen Zimmer gesessen hatte und welch ein Schock aus Überraschung und Entzücken ihn erfasst hatte, als die Sonne endlich die Mitte ihres Fensters erreichte und im Drahtkreis gefangen war.
Jetzt drehte er sich zu ihr um, er grinste. Ihre Haare und ihr Gesicht loderten im orangefarbenen Licht.
»Siehst du«, murmelte Sasha und sah die Sonne an. »Sie gehört mir.«
13
Reine
Weitere Kostenlose Bücher