Der größere Teil der Welt - Roman
sagt Mindy.
»Warum bewegt er sich nicht?«
»Die Löwin liegt auf ihm. Seht ihr, sie versuchen, sie herunterzuziehen. Ihm geht es bestimmt gut.«
»Der Löwe hat Blut am Maul«, sagt Charlie.
»Das kommt vom Zebra. Erinnerst du dich, dass sie ein Zebra gefressen hat?« Sie muss sich ungeheure Mühe geben, damit ihre Zähne nicht klappern, aber Mindy weiß, dass sie ihr Entsetzen vor den Kindern verbergen muss – und ihre Gewissheit, dass sie an dem, was am Ende geschehen sein mag, schuld ist.
In der pulsierenden Abgeschiedenheit, umgeben von dem heißen leeren Tag, sitzen sie da und warten. Mildred legt Mindy eine knorrige Hand auf die Schulter, und Mindy merkt, wie sich ihre Augen mit Tränen füllen.
»Er übersteht das«, sagt die alte Frau freundlich. »Du wirst schon sehen.«
Als die Gruppe sich nach dem Essen in der Bar des Gebirgshotels drängt, scheinen alle etwas gewonnen zu haben. Chronos hat einen strahlenden Sieg über seinen Bandgenossen und beide Freundinnen errungen, um den Preis von zweiunddreißig Stichen auf seiner rechten Wange, die man auch als Gewinn betrachten könnte (er ist ja schließlich ein Rockstar), und mehreren riesigen antibiotischen Pillen, die ein englischer Chirurg mit schläfrigen Augen und Bierfahne ihm verabreicht hat – ein alter Freund von Albert, den er in einer ungefähr eine Stunde von den Löwen entfernt liegenden Betonziegelstadt aufgetan hatte.
Albert hat Heldenstatus errungen, aber das sieht man ihm nicht an. Er schlürft einen Bourbon und knurrt seine Antworten auf die aufgeregten Fragen der Phoenix-Fraktion. Bisher hat niemand ihn mit den vernichtenden grundlegenden Fragen konfrontiert: Warum warst du überhaupt im Busch? Wie bist du so dicht an die Löwen herangekommen? Warum hast du Chronos nicht am Aussteigen gehindert? Aber Albert weiß, dass Ramsey, sein Boss, diese Fragen stellen wird und dass sie vermutlich dazu führen werden, dass er gefeuert wird: der letzte einer Serie von Fehlern, ausgelöst durch seinen »Hang zur Selbstzerstörung«, wie es seine Mutter damals in Minehead nannte.
Die Mitglieder von Ramseys Safarigruppe haben eine Geschichte bekommen, die sie für den Rest ihres Lebens erzählen werden. Sie wird einige von ihnen in etlichen Jahren dazu veranlassen, einander über Google und auf Facebook zu suchen, weil sie dem scheinbaren Versprechen dieser Portale, Wünsche zu erfüllen, nicht widerstehen können: Was macht eigentlich …? In einigen wenigen Fällen werden sie sich noch einmal treffen, um in Erinnerungen zu schwelgen und die physische Veränderung ihres Gegenübers zu bestaunen, die mit jeder Minute kleiner zu werden scheint. Dean, der dem Ruhm erfolglos nachjagt, bis er mittleren Alters ist und die Rolle eines schmerbäuchigen, lästernden Klempners in einer populären Comedyserie an Land zieht, wird sich auf einen Espresso mit Louise treffen (jetzt eine mollige Zwölfjährige aus der Phoenix-Fraktion), die ihn nach ihrer Scheidung googelt. Nach dem Kaffee werden sie sich in ein Hotel in der Nähe von San Vicente begeben, um überraschend packenden Sex zu haben, dann nach Palm Springs für ein Golfwochenende und schließlich zum Altar, begleitet von Deans vier erwachsenen Kindern und Louises drei Teenagern. Aber diese Spätfolge wird die große Ausnahme sein – das Wiedersehen wird in den meisten Fällen zu der gegenseitigen Entdeckung führen, dass man längst nicht so viele Gemeinsamkeiten hat, nur weil man fünfunddreißig Jahre zuvor auf einer Safari war, und sie werden auseinandergehen und sich dabei fragen, was sie sich eigentlich genau erhofft hatten.
Die Insassen von Alberts Jeep haben Zeugenstatus, sie werden endlos gefragt, was sie gesehen und gehört und empfunden haben. Eine Gruppe von Kindern, unter ihnen Rolph, Charlie, zwei acht Jahre alte Zwillingsjungen aus Phoenix und Louise, die mollige Zwölfjährige, stürmen über einen Bohlenweg und in einen Unterstand neben einem Wasserloch: eine Holzhütte voller langer Bänke mit einem Schlitz, durch den sie, für die Tiere unsichtbar, hindurchspähen können. Drinnen ist es dunkel. Sie drängen sich um den Schlitz, aber gerade sind keine Tiere zum Trinken da.
»Hast du den Löwen wirklich gesehen?«, fragt Louise staunend.
»Die Löwin«, sagt Rolph. »Es waren zwei und ein Löwe. Und drei Junge.«
»Sie meint die, die erschossen worden ist«, sagt Charlie ungeduldig. »Natürlich haben wir die gesehen. Wir waren nur Zentimeter entfernt.«
»Meter«,
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