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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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berichtigt sie Rolph.
    »Meter bestehen schließlich aus Zentimetern«, sagt Charlie. »Wir haben alles gesehen.«
    Rolph hasst diese Gespräche schon jetzt – eine japsende Aufregung steckt dahinter, und Charlie scheint darin zu schwelgen. Ein Gedanke macht ihm zu schaffen. »Was wird wohl aus den Jungen«, sagt er. »Die Löwin, die erschossen worden ist, war sicher ihre Mutter, sie haben doch zusammen gefressen.«
    »Nicht unbedingt«, sagt Charlie.
    »Aber wenn sie es war …«
    »Dann kümmert sich vielleicht der Vater um sie«, sagt Charlie zweifelnd. Die anderen Kinder schweigen und denken über diese Frage nach.
    »Löwen ziehen ihre Jungen meistens gemeinschaftlich auf«, meldet sich eine Stimme hinten aus der Hütte. Mildred und Fiona waren schon vor ihnen da oder sind gerade erst hereingeschlüpft; da sie ältere Damen sind, übersieht man sie leicht. »Sicher nimmt das Rudel sich ihrer an«, sagt Fiona. »Auch wenn die getötete Löwin ihre Mutter war.«
    »Was aber nicht der Fall gewesen sein muss«, fügt Charlie hinzu.
    »Was nicht der Fall gewesen sein muss«, stimmt Mildred zu.
    Die Kinder kommen nicht auf die Idee, Mildred, die ebenfalls im Jeep war, zu fragen, was sie gesehen hat.
    »Ich gehe jetzt zurück«, sagt Rolph zu seiner Schwester.
    Er nimmt den Pfad, der wieder zum Hotel hinaufführt. Sein Vater und Mindy sitzen noch immer in der verräucherten Bar, die seltsam triumphierende Atmosphäre macht Rolph nervös. Seine Gedanken drehen sich im Kreis um den Jeep, aber seine Erinnerungen sind ein Chaos: die springende Löwin, der Rückstoß des Schusses, Chronos’ Stöhnen auf der Fahrt zum Arzt, Blut, das auf dem Boden des Jeeps unter seinem Kopf eine Pfütze bildet wie in einem Comic-Heft. Alles mischt sich mit der Empfindung, wie Mindy von hinten die Arme um ihn legt, ihre Wange an seinem Kopf, ihr Geruch, nicht nach Brot, wie bei seiner Mom, sondern salzig, fast bitter – ein Geruch, der mit dem der Löwen verwandt zu sein scheint.
    Er stellt sich neben seinen Vater, der mitten in einer Militärgeschichte, die er gerade mit Ramsey austauscht, fragt: »Was ist, Sohnemann, bist du müde?«
    »Soll ich dich nach oben bringen?«, fragt Mindy, und Rolph nickt, das wäre schön.
    Die blaue moskitoreiche Nacht drängt durch die Hotelfenster herein. Draußen vor der Bar ist Rolph plötzlich weniger müde. Mindy holt seinen Schlüssel von der Rezeption, dann sagt sie: »Gehen wir doch auf die Veranda.«
    Sie gehen hinaus. So dunkel es auch ist, die Silhouetten der Berge vor dem Himmel sind noch dunkler. Rolph kann die Stimmen der anderen Kinder unten in der Hütte vage hören. Er ist erleichtert darüber, ihnen entkommen zu sein. Er steht mit Mindy am Geländer der Veranda und schaut die Berge an. Ihr salziger, würziger Geruch umgibt ihn. Rolph spürt, dass sie auf etwas wartet, und auch er wartet, mit hämmerndem Herzen.
    Weiter hinten auf der Veranda hustet jemand. Rolph sieht die orangefarbene Spitze der Zigarette, die sich in der Dunkelheit bewegt, und Albert kommt mit einem Stiefelknarzen auf sie zu. »Na, hallo«, sagt er zu Rolph. Zu Mindy sagt er nichts, und Rolph nimmt an, dass das eine Hallo für sie beide gelten soll.
    »Hallo«, begrüßt er Albert.
    »Was habt ihr denn vor?«, fragt Albert.
    Rolph schaut Mindy an. »Was haben wir denn vor?«
    »Die Nacht genießen«, sagt sie und schaut noch immer die Berge an, aber ihre Stimme klingt angespannt. »Wir sollten nach oben gehen«, sagt sie zu Rolph und geht plötzlich zurück ins Hotel. Rolph versteht nicht, wie sie so unfreundlich sein kann. »Kommst du auch?«, fragt er Albert.
    »Warum nicht?«
    Die drei steigen die Treppe hoch, und aus der Bar kommen fröhliche Geräusche. Rolph verspürt einen seltsamen Druck, Konversation zu machen. »Ist dein Zimmer auch da oben?«, fragt er.
    »Den Gang hinunter«, sagt Albert. »Nummer drei.«
    Mindy schließt die Tür zu Rolphs Zimmer auf, geht hinein und lässt Albert auf dem Gang stehen. Rolph ist plötzlich wütend auf sie.
    »Möchtest du mein Zimmer sehen?«, fragt er Albert. »Meins und Charlies?«
    Mindy stößt ein Lachen aus, das aus einer Silbe besteht – so, wie seine Mutter lacht, wenn etwas ihr bis zum Abwinken auf die Nerven geht. Albert betritt sein Zimmer. Es ist schlicht, mit Holzmöbeln und staubigen geblümten Vorhängen, aber nach zehn Nächten im Zelt wirkt es wie der pure Luxus.
    »Sehr hübsch«, sagt Albert. Mit seinen eher langen braunen Haaren und seinem

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