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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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ihr Fernglas, mit dem sie sonst Vögel beobachtet, die Löwen anstarrt.
    »Woher hast du das gewusst?«, fragt Mindy nach einer Weile.
    Albert dreht sich herum, um sie am anderen Ende des Jeeps anzusehen. Er hat widerspenstiges Haar und einen weichen braunen Schnurrbart. Auf seinem Gesicht zeichnet sich ein humorvoller Ausdruck ab. »Hab ich geraten.«
    »Aus einer halben Meile Entfernung?«
    »Vermutlich hat er einen sechsten Sinn«, sagt Cora. »Nach so vielen Jahren hier.«
    Albert wendet sich wieder nach vorne und bläst Rauch aus dem offenen Fenster.
    »Hast du etwas gesehen?« Mindy lässt nicht locker.
    Sie erwartet, dass Albert sich nicht wieder umdreht, aber das tut er, er beugt sich über die Rückenlehne seines Sitzes vor, ihre Blicke treffen sich zwischen den nackten Beinen der Kinder. Mindy fühlt sich so ruckartig zu ihm hingezogen, als hätte man sie am Gedärm gepackt und kräftig daran gedreht. Sie weiß jetzt, dass das auf Gegenseitigkeit beruht, sie sieht es an Alberts Gesicht.
    »Geknickte Äste an den Büschen«, sagt er, und sein Blick ruht auf ihr. »Wie von etwas Gejagtem. Es hätte auch nichts sein können.«
    Cora, die merkt, dass sie ausgeschlossen ist, seufzt resigniert. »Kann jemand runterkommen, damit ich auch mal schauen kann?«, ruft sie den anderen zu.
    »Schon unterwegs«, sagt Lou, aber Chronos ist schneller, lässt sich auf den Vordersitz zurückfallen und beugt sich dann aus dem Fenster. Cora erhebt sich in ihrem weiten bedruckten Rock. In Mindys Gesicht pocht das Blut. Ihr eigenes Fenster, wie Alberts, ist auf der linken, von den Löwen abgewandten Seite des Jeeps. Mindy sieht zu, wie er die Finger befeuchtet und seine Zigarette löscht. Sie sitzen schweigend da, ihr Hände baumeln getrennt aus ihren Fenstern, eine warme Brise bewegt die Haare auf ihren Armen, und sie ignorieren die bisher spektakulärste Gelegenheit auf dieser Safari, Tiere zu beobachten.
    »Du machst mich verrückt«, sagt Albert sehr leise. Der Klang scheint aus seinem Fenster hinaus und dann durch Mindys zurückzureisen wie durch ein Schallrohr. »Das weißt du ganz genau.«
    »Weiß ich gar nicht«, murmelt sie zurück.
    »Ist aber so.«
    »Mir sind die Hände gebunden.«
    »Für immer?«
    Sie lächelt. »Ich bitte dich, nur ein kurzes Intermezzo.«
    »Und dann?«
    »Mach ich Examen. In Berkeley.«
    Albert kichert. Mindy weiß nicht so recht, was dieses Kichern bedeutet – ist es witzig, dass sie ihr Examen machen will oder dass Berkeley und Mombasa, wo er lebt, unvereinbare Orte sind?
    »Chronos, du verrückter Idiot, komm sofort wieder rein!«
    Das ist Lous Stimme, von oben. Aber Mindy fühlt sich träge, fast wie unter Drogen, und sie reagiert erst, als sie die Veränderung in Alberts Stimme hört. »Nein«, zischt er. »Nein! Zurück in den Jeep!«
    Mindy dreht sich zum Fenster auf der anderen Seite herum. Chronos hockt zwischen den Löwen und hält seine Kamera dicht vor die Gesichter der beiden schlafenden und knipst.
    »Rückwärtsgehen«, sagt Albert mit gedämpfter Dringlichkeit. »Rückwärts, Chronos, ganz vorsichtig.«
    Der Angriff kommt aus einer Richtung, aus der ihn niemand erwartet hat, von der Löwin, die an dem Zebra genagt hat. Sie springt in einer geschmeidigen, der Schwerkraft trotzenden Bewegung auf Chronos zu, die jedem, der zu Hause eine Katze hat, sofort bekannt vorkäme. Sie landet auf seinem Kopf und wirft ihn zu Boden. Man hört Schreie, einen Schuss, und diejenigen, die oben herausgeschaut haben, fallen mit solcher Wucht auf ihre Sitze zurück, dass Mindy zuerst glaubt, sie seien getroffen worden. Aber es war die Löwin, Albert hat sie mit einem Gewehr getötet, das er irgendwo versteckt hatte, vielleicht unter seinem Sitz. Die anderen Löwen sind weggelaufen, nur noch der Zebrakadaver und der Körper der Löwin, unter dem Chronos’ Beine hervorragen, sind übrig.
    Albert, Lou, Dean und Cora springen aus dem Jeep. Mindy will hinterher, aber Lou stößt sie zurück, und sie kapiert, dass sie offenbar bei seinen Kindern bleiben soll. Sie lehnt sich über deren Rückenlehne und legt um jedes einen Arm. Während sie aus dem offenen Fenster starren, wird Mindy von einer Welle der Übelkeit durchspült, sie befürchtet, ohnmächtig zu werden. Mildred sitzt noch immer neben den Kindern, und es dämmert Mindy, dass die ältere Vogelbeobachterin die ganze Zeit, in der sie und Albert geredet haben, im Wagen war.
    »Ist Chronos tot?«, fragt Rolph gerade heraus.
    »Bestimmt nicht«,

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