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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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unaussprechliche Erkenntnis, dass alles verloren ist.
    Eine halbe Stunde lang versenkte sich Ted hingerissen in das Relief. Er entfernte sich ein Stückchen und kam wieder näher. Er verließ den Saal und kehrte zurück. Jedes Mal erwartete ihn dasselbe Erlebnis: eine flimmernde Erregung, wie er sie seit Jahren nicht mehr als Reaktion auf ein Kunstwerk empfunden hatte, wobei die Tatsache, dass eine solche Erregung noch möglich war, ihn in noch größere Erregung versetzte.
    Er verbrachte den restlichen Tag oben bei den Mosaiken aus Pompeji, aber in Gedanken war er die ganze Zeit bei Orpheus und Eurydike. Er besuchte sie noch einmal, ehe er das Museum verließ.
    Inzwischen war es Nachmittag. Ted ging los, noch immer benommen, bis er sich in einem Gewirr von so engen Gassen wiederfand, dass sie ihm dunkel vorkamen. Er ging vorbei an Kirchen, an denen der Schmutz Blasen warf, an zerfallenden Palazzi, aus deren verdrecktem Inneren das Geheul von Katzen und Kindern drang. Beschmierte, vergessene Wappen waren über die massiven Türeingänge gemeißelt, und es verstörte Ted zutiefst, wie solche universalen, maßgeblichen Symbole allein durch die Zeit gänzlich verlieren konnten. Er malte sich aus, wie die etwas andere Version von Susan an seiner Seite sein Erstaunen darüber teilen würde.
    Als Orpheus und Eurydike ihn langsam losließen, registrierte Ted ein unterirdisches Raunen um sich herum; ein Zusammenspiel aus Blicken, Pfiffen und Zeichen, das fast alle einzubeziehen schien, von der alten Vettel in Schwarz vor der Kirche bis zu dem Jugendlichen im grünen T-Shirt, der unablässig auf seiner Vespa an Ted vorüberfegte und ihn beinahe streifte. Alle, nur ihn nicht. Aus einem Fenster ließ eine alte Frau an einem Seil einen Korb voller Marlboropackungen auf die Straße herunter. Schwarzmarkt, dachte Ted, und sah nervös zu, wie ein Mädchen mit verfilzten Haaren und sonnenverbrannten Armen eine Packung herausnahm und einige Münzen in den Korb legte. Als der Korb wieder hochgezogen wurde, auf das Fenster zu, erkannte Ted in der Zigarettenkäuferin seine Nichte.
    Er hatte sich vor dieser Begegnung so sehr gefürchtet, dass er nicht einmal richtig überrascht war von diesem unglaublichen Zufall. Sasha steckte sich mit gerunzelter Stirn eine Marlboro an, und indem er so tat, als bewunderte er die verdreckte Mauer eines Palazzo, verlangsamte Ted seine Schritte. Als sie dann weiterging, folgte er ihr. Sie trug verwaschene schwarze Jeans und ein spülwassergraues T-Shirt. Sie lief sprunghaft und mit einem leichten Hinken, mal langsam, mal wieder rasch, so dass Ted aufpassen musste, sie nicht zu überholen oder hinter ihr zurückzubleiben.
    Er wurde in die verknoteten Innereien der Stadt hineingezogen, eine arme, von Touristen gemiedene Gegend, wo der Klang von flatternder Wäsche sich mit dem lebhaften Rascheln von Taubenflügeln mischte. Ohne Vorwarnung fuhr Sasha herum und sah ihm verwirrt ins Gesicht. »Ist das?«, stammelte sie. »Onkel …«
    »Großer Gott! Sasha!«, rief Ted und zog wilde Grimassen, um Überraschung zu mimen. Er war ein miserabler Schauspieler.
    »Du hast mich erschreckt«, sagte Sasha, noch immer ungläubig. »Ich habe gespürt, dass jemand …«
    »Du hast mich auch erschreckt«, gab Ted zurück, und sie brachen in nervöses Lachen aus. Er hätte sie gleich umarmen müssen. Jetzt kam es ihm zu spät vor.
    Um die naheliegende Frage abzuwehren ( Was ihn denn nach Neapel verschlagen habe ),redete Ted immer weiter. Wo sie denn hinwolle?
    »Zu … zu Freunden«, sagte Sasha. »Und was ist mit dir?«
    »Nur so … ein Spaziergang«, sagte er, übertrieben laut. Sie gingen jetzt nebeneinanderher. »Hinkst du?«
    »Ich hab mir in Tanger den Knöchel gebrochen«, sagte sie. »Ich bin eine ziemlich steile Treppe hinuntergefallen.«
    »Dann warst du hoffentlich beim Arzt.«
    Sasha bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. »Ich hatte dreieinhalb Monate lang einen Gips.«
    »Und warum hinkst du dann?«
    »Weiß auch nicht.«
    Sie war erwachsen geworden, und das so schonungslos, mit solch einem großzügigen Vorrat an Brüsten und Hüften und schmaler Taille und einer geübten Art, die Asche wegzuschnippen, dass Ted diese Veränderung vorkam wie das Werk eines Augenblicks. Ein Wunder. Ihre Haare waren bei Weitem nicht so rot wie früher. Ihr Gesicht war zart und boshaft und so blass, dass es die Farbtöne aus ihrer Umwelt – lila, grün, rosa – aufzunehmen schien wie ein von Lucian Freud gemaltes

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