Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
Vom Netzwerk:
schmerzenden Leib auf das riesige Bett und rief seine Schwester Beth an, Sashas Mutter, um ihr mitzuteilen, dass die Bemühungen eines weiteren Tages fruchtlos geblieben seien.
    »Okay«, seufzte Beth aus Los Angeles, wie sie das am Ende jedes Tages tat. Ihre Enttäuschung war so enthusiastisch, dass sie beinahe ein Eigenleben entwickelte, Ted kam sie wie ein drittes Wesen am Telefon vor.
    »Tut mir leid«, sagte er. Ein Tropfen Gift füllte sein Herz. Am nächsten Tag würde er sich nach Sasha umsehen. Aber noch während er sich das gelobte, hielt er an dem gegenteiligen Plan fest, das Museo Nazionale zu besuchen, das eine Orpheus und Eurydike-Darstellung besaß, die er seit Jahren bewunderte: ein römisches Marmorrelief, die Kopie eines griechischen Originals. Er hatte es immer schon mit eigenen Augen sehen wollen.
    Glücklicherweise war Beths zweiter Ehemann Hammer, der Ted normalerweise mit Fragen bombardierte, die auf die simple Frage hinausliefen, nämlich: Krieg ich genug für mein Geld? (wodurch Ted sich fühlte, als wäre er beim Schuleschwänzen ertappt worden), entweder nicht in der Nähe oder hatte beschlossen, sich nicht einzuschalten. Nachdem Ted den Hörer aufgelegt hatte, ging er zur Minibar und schüttete Wodka über ein paar Eiswürfel. Er ging mit Glas und Telefon auf den Balkon, setzte sich in einen weißen Plastiksessel und schaute hinab auf die Via Partenope und den Golf von Neapel. Die Küste war zerklüftet, das Wasser von zweifelhafter Sauberkeit (wenn auch trügerisch blau), und diese unerschrockenen Neapolitaner, von denen die meisten fett zu sein schienen, ließen ihre Kleider auf den Felsen fallen und sprangen direkt vor den Fußgängern, Touristenhotels und dem Verkehr ins Wasser. Ted rief seine Frau an. »Oh, hallo Liebling!« Susan war überrascht, weil sie so früh von ihm hörte – meistens rief er vor dem Schlafengehen an, wenn es an der Ostküste eher schon auf die Abendbrotzeit zuging. »Alles in Ordnung?«
    »Alles ist gut.«
    Ihr fröhlicher, lebhafter Tonfall ließ ihn gleich mutlos werden. In Neapel dachte Ted oft an Susan, aber an eine etwas andere Version von ihr: eine nachdenkliche, verständnisvolle Frau, mit der er sprechen konnte, ohne zu reden. Es war diese ein wenig andere Version von Susan, die mit ihm der Stille von Pompeji gelauscht hatte und empfänglich gewesen war für den in der Luft hängenden Widerhall von Schreien, von fließender Asche. Wie konnte so viel Zerstörung zum Schweigen gebracht worden sein? Solche Fragen gingen Ted in dieser Woche der Einsamkeit durch den Kopf, eine Woche, die ihm wie ein Monat und zugleich wie eine Minute vorkam.
    »Ich habe eine Chance auf das Suskind-Haus«, sagte Susan, die offenbar hoffte, ihn mit dieser Nachricht aus dem Reich der Immobilien aufzumuntern.
    Aber jede Enttäuschung, die Ted mit seiner Frau erlebte, jeder weitere Schritt zu ihrer Abwertung, löste gleichzeitig Schuldgefühle in ihm aus; schon vor vielen Jahren hatte er seine Leidenschaft für Susan auf die Hälfte zusammengefaltet, damit er sich nicht länger so hilflos und wie kurz vorm Ertrinken fühlen musste, wenn er sie neben sich im Bett ansah, ihre drahtigen Arme und ihren weichen, großzügigen Hintern. Dann hatte er sie abermals ein Stück verringert, und wenn er nun Verlangen nach Susan verspürte, dann ging es nicht mehr einher mit der stechenden Furcht, es könnte sowieso niemals befriedigt werden. Dann reduzierte er sie ein weiteres Mal, so dass er bei aufkommendem Verlangen nicht gleich zur Tat schreiten musste. Dann noch ein Stück, bis er es kaum noch verspürte. Sein Verlangen war am Ende so klein, dass Ted es in seinen Schreibtisch oder eine Tasche legen und dann vergessen konnte, und das gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und des Erfolgs, als hätte er einen gefährlichen Apparat auseinandergenommen, der sie beide hätte zerschmettern können. Susan war zuerst verblüfft, dann verzweifelt; sie hatte ihn zweimal ins Gesicht geschlagen, sie war in einem Gewitter aus dem Haus gestürzt und hatte in einem Motel übernachtet, sie hatte Ted in schwarzer im Schritt offener Unterhose im Schlafzimmer zu Boden gerungen. Aber irgendwann machte sich bei Susan eine Art Gedächtnisschwund breit, ihr Widerstand und ihre Kränkung lösten sich auf und verwandelten sich in ein ewiges süßliches Strahlen, das etwas Entsetzliches hatte. So entsetzlich musste das Leben sein, vermutete Ted, wenn es nicht durch den Tod geerdet und geformt wurde. Er hatte ihre

Weitere Kostenlose Bücher