Der größere Teil der Welt - Roman
und Jahre später wird sie mit ihrer Mutter in einer Menge von anfeuernden Eltern neben einem Spielfeld stehen und ihm zusehen, wie er beim Spielen mit verträumter Miene zum Himmel hochblickt.
»Charlie,« sagt Rolph. »Rat mal, was mir gerade aufgegangen ist.«
Charlie beugt sich zu ihrem Bruder vor, der über seine Erkenntnis grinsen muss. Er schiebt ihr beide Hände ins Haar, um über dem hämmernden Rhythmus gehört zu werden. Sein warmer, süßer Atem füllt ihr Ohr.
»Ich glaube, diese Damen haben überhaupt nie Vögel beobachtet«, sagt Rolph.
5
Ihr (beide)
Alles ist noch genau wie früher: der Pool mit den blauen und gelben Fliesen aus Portugal, das Wasser, das leise über eine schwarze Mauer läuft. Das Haus ist noch dasselbe, nur still. Woher kommt diese Stille nur: Nervengas? Überdosis? Massenverhaftungen?, frage ich mich, während wir einem Hausmädchen durch die Flucht von mit Teppich ausgelegten Zimmern folgen und der Pool uns durch jedes Fenster anglitzert. Was sonst hätte diese endlosen Partys beenden können?
Aber der Grund ist ein anderer. Zwanzig Jahre sind vergangen.
Er liegt im Schlafzimmer, in einem Krankenhausbett, mit Schläuchen in der Nase. Der zweite Schlaganfall hat ihn wirklich umgehauen – der erste war nicht so schlimm, nur ein Bein war ein wenig zittrig. Das hat Bennie mir am Telefon erzählt. Bennie, unser alter Freund aus der Highschool. Lous Protegé. Er hat mich über meine Mutter ausfindig gemacht, obwohl sie San Francisco schon vor Jahren verlassen hat und mir nach L.A. gefolgt ist. Bennie der Organisator, der Leute aus den alten Zeiten zusammenbringt, um sich von Lou zu verabschieden. Offenbar kann man mit einem Computer heute so ziemlich jeden finden. Er hat sogar Rhea in Seattle gefunden, trotz ihres veränderten Nachnamens.
Von unserer alten Clique ist nur Scotty verschwunden. Daran kann auch kein Computer etwas ändern.
Rhea und ich stehen an Lous Bett und wissen nicht so recht, was wir machen sollen. Wir kennen ihn aus einer Zeit, in der normale Leute einfach nicht gestorben sind.
Es gab natürlich Hinweise auf eine schlechte Alternative zum Leben (wir haben beim Kaffee daran zurückgedacht, Rhea und ich, ehe wir hergekommen sind – und dabei betrachten wir über den Plastiktisch hinweg aufmerksam unsere neuen Gesichter, die vertrauten Züge, die von einem seltsamen Erwachsensein verwässert worden sind). Scottys Mom starb an Tabletten, als wir noch zur Highschool gingen, aber sie war nicht normal. Mein Vater an AIDS , aber zu dem Zeitpunkt hatte ich kaum noch mit ihm zu tun. Jedenfalls waren das Katastrophen. Nicht wie das hier: Medizin neben dem Bett, ein bleierner Geruch von Medikamenten und gesaugtem Teppich. Ich fühle mich wie im Krankenhaus. Nicht unbedingt der Geruch erinnert mich daran (im Krankenhaus gibt es keine Teppiche), sondern die tote Luft, das Gefühl, von allem weit weg zu sein.
Da stehen wir nun, wortlos. Meine Fragen kommen mir alle falsch vor. Wie bist du so alt geworden? Ist es auf einmal passiert, an einem Tag, oder bist du ganz allmählich verfallen? Wann hast du mit den Partys aufgehört? Sind die anderen auch alle alt geworden, oder warst du der Einzige? Sind noch immer andere Menschen hier, verstecken sie sich in den Palmen oder halten sie unter Wasser die Luft an? Wann bist du zuletzt deine Bahnen geschwommen? Tun deine Knochen weh? Hast du gewusst, dass es so kommen würde, und dieses Wissen versteckt, oder hat es dich hinterrücks überfallen?
Stattdessen sage ich: »Hallo, Lou«, und genau im selben Moment sagt Rhea: »Wow, hier hat sich ja gar nichts geändert«, und wir lachen beide.
Lou lächelt, und dieses Lächeln ist, sogar mit den gelben kaputten Zähnen dahinter, vertraut, ein warmer Stich im Inneren. Sein Lächeln, das sich an diesem seltsamen Ort zeigt.
»Ihr Mädels. Seht noch immer toll aus«, keucht er.
Er lügt. Ich bin dreiundvierzig, genau wie Rhea, sie lebt in Seattle, ist verheiratet und hat drei Kinder. Ich kann es immer noch nicht fassen: drei. Ich lebe wieder bei meiner Mutter und versuche, an der UCLA meinen Bachelor fertig zu machen, nach einigen langen, wirren Umwegen. »Deine planlose Jugend«, so nennt meine Mutter meine verlorene Zeit, in dem Versuch, es normal und witzig klingen zu lassen, aber sie hat angefangen, noch ehe ich volljährig war, und viel länger gedauert. Ich bete, dass sie vorüber ist. An manchen Morgen sieht die Sonne vor meinem Fenster falsch aus. Ich sitze am Küchentisch
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