Der große deutsche Märchenschatz
sonstigen Quellen erfahren hatten.
Die Grimms hatten für ihre umfangreiche Sammlung verschiedene Quellen. An erster Stelle war die Forschung in der königlichen Bibliothek in Kassel; allmählich begannen sie dann die Märchen von Gewährsleuten zu sammeln. Sie haben ihre Märchen vor allem bei Wanderungen in Hessen erzählt bekommen, auch Freunde übermittelten ihnen Geschichten. Vor allem von Dorothea Viehmann, deren Vorfahren französische Hugenotten waren, hörten die Brüder französische Märchen, die sich auch in der schon erwähnten Sammlung von Charles Perrault befanden.
Durch die Grimms wurden aus den überlieferten Märchen Buchmärchen, die sich natürlich vorzüglich zum Vorlesen eigneten. Dafür sorgte vor allem der jüngere Bruder Wilhelm ab der 2. Auflage der Sammlung, indem er die ohnehin schon biedermeierliche Sprache noch besonders für Kinder glättete und die märchenhaften Formeln einfügte; zudem wurden viele allzu grausame Passagen der Vorlagen geglättet oder ausgemerzt. Auch die bekanntesten Sprüche wie »Spieglein, Spieglein an der Wand« und alle anderen, die noch heute jedes Kind kennt, stammen von ihm.
Die Brüder Grimm haben aber nicht nur dem Märchen den Einzug in die Nationalliteratur eröffnet, sondern sie haben auch durch ihre Kommentierung der Märchen maÃgeblich zur Erforschung der Volksdichtung beigetragen. Allerdings blieb dem Märchen durch die Bearbeitung der Grimms bis heute der Platz in der Kinderliteratur vorbehalten.
Nach dem Vorbild der Grimmâschen Sammlung entstanden bald überall in Europa nationale Sammlungen. In Deutschland war es vornehmlich Ludwig Bechstein (1801â1865), der mit seinem Werk
Deutsches Märchenbuch
groÃen Erfolg hatte. Die Popularität seiner Märchen wurde noch durch die biedermeierlichen Illustrationen von Ludwig Richter gesteigert. Es folgten dann im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Sammlungen aus nahezu allen deutschen und deutschsprachigen Landstrichen.
Der vorliegende Band bringt neben Märchen vor Grimm auch solche von Grimm und nach Grimm, was nicht unbedingt sagt, dass die einen älter sind als die anderen. Daneben finden sich hier auch bekannte Kunstmärchen vor allem aus der Romantik, die bald schon Einzug in die klassischen deutschen Märchenbücher gefunden hatten. In diesen verknüpft der Autor seine Fantasiegestalten und imaginären Welten mit denen, die er aus den tradierten Volksmärchen kennt. Mitte des 19. Jahrhunderts haben auch Autoren Märchen eigens für Kinder erfunden und deren kindlicher Welt sprachlich und bildlich angepasst â oft etwas kitschig, süÃlich und moralisierend wie etwa Robert Reinick. Auch dafür gibt es in unserem Band einige Beispiele, und nicht zu vergessen Schwänke und Lügengeschichten, die in keiner klassischen Märchensammlung fehlen dürfen (z.B. Eulenspiegel, Münchhausen).
Die vorliegende Sammlung versucht der groÃen Motivfülle und Bandbreite des deutschen Märchens gerecht zu werden, indem sie eine zeitliche und räumliche Reise zugleich bietet: Zeitlich geht es von den ältesten deutschen Märchen über die Grimms bis hin zu Sammlungen aus dem 20. Jahrhundert, räumlich geht die Reise durch fast alle deutschsprachigen Gebiete, durch die vielen einzelnen Gefilde Deutschlands über die Schweiz und Ãsterreich bis hin ins entlegene Siebenbürgen, wo sich bei den deutschsprachigen Siedlern die uralten Geschichten aus der fernen Heimat erhalten haben.
Erich Ackermann
Der undankbare Zwerg
Ein paar sehr arme Leute hatten viele, viele Kinder, welche sie nur mit Mühe ernähren konnten. Einst gingen einige dieser Kinder in den Wald, um Reisig zusammenzusuchen. Eines der Mädchen, mit Namen SchneeweiÃchen, verlor sich zufällig von den anderen und fand mit Erstaunen einen hässlichen Zwerg, der kaum eine Elle lang sein mochte, in der gröÃten Not. Er hatte einen Baum, welcher gefällt war, spalten wollen und auch wirklich eine tiefe Spalte hineingehauen, in welche er einen Pflock getan. Dieser Pflock war, ich weià nicht wie, wieder herausgekommen, und da sich die Spalte schnell schloss, hatte sie ein ziemliches Stück von seinem gewaltig langen Bart erwischt und eingeklemmt, sodass der Zwerg gefangen dastand. Er rief das Kind um Hilfe an, und SchneeweiÃchen war auch gleich bereit ihm zu helfen; aber sie mochte es
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