Der große deutsche Märchenschatz
des Flusses ist, so befindet man sich wie auf einer andern Erde, alles so traurig und dürr; jeder Reisende behauptet aber auch, dass unser Dorf weit und breit in der Runde das schönste sei.«
»Bis auf jenen Tannengrund«, erwiderte der Mann; »schau einmal dorthin zurück, wie schwarz und traurig der abgelegene Fleck in der ganzen heitern Umgebung liegt; hinter den dunkeln Tannenbäumen die rauchige Hütte, die verfallenen Ställe, der schwermütig vorüberflieÃende Bach.«
»Es ist wahr«, sagte die Frau, indem beide stillstanden, »sooft man sich jenem Platze nur nähert, wird man traurig und beängstigt, man weià selbst nicht warum. Wer nur die Menschen eigentlich sein mögen, die dort wohnen, und warum sie sich doch nur so von allen in der Gemeinde entfernt halten, als wenn sie kein gutes Gewissen hätten.«
»Armes Gesindel«, erwiderte der junge Pächter, »dem Anschein nach Zigeunervolk, die in der Ferne rauben und betrügen und hier vielleicht ihren Schlupfwinkel haben. Mich wundert nur, dass die gnädige Herrschaft sie duldet.«
»Es können auch wohl«, sagte die Frau weichmütig, »arme Leute sein, die sich ihrer Armut schämen, denn man kann ihnen doch eben nichts Böses nachsagen; nur ist es bedenklich, dass sie sich nicht zur Kirche halten und man auch eigentlich nicht weiÃ, wovon sie leben, denn der kleine Garten, der noch dazu ganz wüst zu liegen scheint, kann sie unmöglich ernähren, und Felder haben sie nicht.«
»Weià der liebe Gott«, fuhr Martin fort, indem sie weitergingen, »was sie treiben mögen; kommt doch auch kein Mensch zu ihnen, denn der Ort, wo sie wohnen, ist ja wie verbannt und verhext, sodass sich auch die vorwitzigsten Burschen nicht hingetrauen.«
Dieses Gespräch setzten sie fort, indem sie sich in das Feld wandten. Jene finstre Gegend, von welcher sie sprachen, lag abseits vom Dorfe. In einer Vertiefung, welche Tannen umgaben, zeigte sich eine Hütte und verschiedene fast zertrümmerte Wirtschaftsgebäude, nur selten sah man Rauch dort aufsteigen, noch seltener wurde man Menschen gewahr; jezuweilen hatten Neugierige, die sich etwas näher gewagt, auf der Bank vor der Hütte einige abscheuliche Weiber in zerlumptem Anzuge wahrgenommen, auf deren Schoà ebenso hässliche und schmutzige Kinder sich wälzten; schwarze Hunde liefen vor dem Reviere, in Abendstunden ging wohl ein ungeheurer Mann, den niemand kannte, über den Steg des Baches und verlor sich in die Hütte hinein; dann sah man in der Finsternis sich verschiedene Gestalten wie Schatten um ein ländliches Feuer bewegen. Dieser Grund, die Tannen und die verfallene Hütte machten wirklich in der heitern grünen Landschaft, gegen die weiÃen Häuser des Dorfes und gegen das prächtige neue Schloss, den sonderbarsten Abstich.
Die beiden Kinder hatten jetzt die Früchte verzehrt; sie verfielen darauf, um die Wette zu laufen, und die kleine behände Marie gewann dem langsameren Andres immer den Vorsprung ab. »So ist es keine Kunst!«, rief endlich dieser aus, »aber lass es uns einmal in die Weite versuchen, dann wollen wir sehen, wer gewinnt!« â »Wie du willst«, sagte die Kleine, »nur nach dem Strome dürfen wir nicht laufen.« â »Nein«, erwiderte Andres, »aber dort auf jenem Hügel steht der groÃe Birnbaum, eine Viertelstunde von hier, ich laufe hier links um den Tannengrund vorbei, du kannst rechts in das Feld hineinrennen, dass wir nicht eher als oben wieder zusammenkommen, so sehen wir dann, wer der Beste ist.«
»Gut«, sagte Marie und fing schon an zu laufen, »so hindern wir uns auch nicht auf demselben Wege, und der Vater sagt ja, es sei zum Hügel hinauf gleich weit, ob man diesseits, ob man jenseits der Zigeunerwohnung geht.«
Andres war schon vorangesprungen und Marie, die sich rechts wandte, sah ihn nicht mehr. »Er ist eigentlich dumm«, sagte sie zu sich selbst, »denn ich dürfte nur den Mut fassen, über den Steg, bei der Hütte vorbei, und drüben wieder über den Hof hinaus zu laufen, so käme ich gewiss viel früher an.« Schon stand sie vor dem Bache und dem Tannenhügel. »Soll ich? Nein, es ist doch zu schrecklich«, sagte sie. Ein kleines weiÃes Hündchen stand jenseits und bellte aus Leibeskräften. Im Erschrecken kam das Tier ihr wie ein Ungeheuer vor, und sie
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