Der große deutsche Märchenschatz
sprang zurück. »O weh!«, sagte sie, »nun ist der Bengel weit voraus, weil ich hier steh und überlege.« Das Hündchen bellte immerfort, und da sie es genauer betrachtete, kam es ihr nicht mehr fürchterlich, sondern im Gegenteil ganz allerliebst vor: Es hatte ein rotes Halsband um, mit einer glänzenden Schelle, und sowie es den Kopf hob und sich im Bellen schüttelte, erklang die Schelle äuÃerst lieblich. »Ei! Es will nur gewagt sein!«, rief die kleine Marie, »ich renne was ich kann, und bin schnell, schnell jenseits wieder hinaus, sie können mich doch eben nicht gleich von der Erde weg auffressen!« Somit sprang das muntere, mutige Kind auf den Steg, rasch an dem kleinen Hund vorüber, der still ward und sich an ihr schmeichelte, und nun stand sie im Grunde, und rundumher verdeckten die schwarzen Tannen die Aussicht nach ihrem elterlichen Hause und der übrigen Landschaft.
Aber wie war sie verwundert. Der bunteste, fröhlichste Blumengarten umgab sie, in welchem Tulpen, Rosen und Lilien mit den herrlichsten Farben leuchteten, blaue und goldrote Schmetterlinge wiegten sich in den Blüten, in Käfigen aus glänzendem Draht hingen an den Spalieren vielfarbige Vögel, die herrliche Lieder sangen, und Kinder in weiÃen kurzen Röckchen, mit gelockten gelben Haaren und hellen Augen, sprangen umher, einige spielten mit kleinen Lämmern, andere fütterten die Vögel oder sammelten Blumen und schenkten sie einander, andere wieder aÃen Kirschen, Weintrauben und rötliche Aprikosen. Keine Hütte war zu sehn, aber wohl stand ein groÃes schönes Haus mit eherner Tür und erhabenem Bildwerk leuchtend in der Mitte des Raumes. Marie war vor Erstaunen auÃer sich und wusste sich nicht zu finden; da sie aber nicht blöde war, ging sie gleich zum ersten Kinde, reichte ihm die Hand und bot ihm Guten Tag. »Kommst du uns auch einmal zu besuchen?«, sagte das glänzende Kind; »ich habe dich drauÃen rennen und springen sehn, aber vor unserm Hündchen hast du dich gefürchtet.« â »So seid ihr wohl keine Zigeuner und Spitzbuben«, sagte Marie, »wie Andres immer spricht? O freilich ist der nur dumm und redet viel in den Tag hinein.« â »Bleib nur bei uns«, sagte die wunderbare Kleine, »es soll dir schon gefallen.« â »Aber wir laufen ja in um die Wette.« â »Zu ihm kommst du noch früh genug zurück. Da, nimm und iss!« â Marie aà und fand die Früchte so süÃ, wie sie noch keine geschmeckt hatte, und Andres, der Wettlauf und das Verbot ihrer Eltern waren gänzlich vergessen.
Eine groÃe Frau in glänzendem Kleide trat herzu und fragte nach dem fremden Kinde. »Schönste Dame«, sagte Marie, »von ohngefahr bin ich hereingelaufen, und da wollen sie mich hierbehalten.« â »Du weiÃt, Zerina«, sagte die Schöne, »dass es ihr nur kurze Zeit erlaubt ist, auch hättest du mich erst fragen sollen.« â »Ich dachte«, sagte das glänzende Kind, »weil sie doch schon über die Brücke gelassen war, könnt ich es tun; auch haben wir sie ja oft im Felde laufen sehn, und du hast dich selber über ihr muntres Wesen gefreut; wird sie uns doch früh genug verlassen müssen.«
»Nein, ich will hierbleiben«, sagte die Fremde, »denn hier ist es schön, auch finde ich hier das beste Spielzeug und dazu Erdbeeren und Kirschen, drauÃen ist es nicht so herrlich.«
Die goldbekleidete Frau entfernte sich lächelnd, und viele von den Kindern sprangen jetzt um die fröhliche Marie mit Lachen her, neckten sie und ermunterten sie zu Tänzen, andre brachten ihr Lämmer oder wunderbares Spielgerät, andre machten auf Instrumenten Musik und sangen dazu. Am liebsten aber hielt sie sich zu der Gespielin, die ihr zuerst entgegengegangen war, denn sie war die freundlichste und holdseligste von allen. Die kleine Marie rief ein Mal über das andre: »Ich will immer bei euch bleiben, und ihr sollt meine Schwestern sein«, worüber alle Kinder lachten und sie umarmten. »Jetzt wollen wir ein schönes Spiel machen«, sagte Zerina. Sie lief eilig in den Palast und kam mit einem goldenen Schächtelchen zurück, in welchem sich glänzender Samenstaub befand. Sie fasste mit den kleinen Fingern und streute einige Körner auf den grünen Boden. Alsbald sah man das Gras wie in Wogen rauschen, und
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