Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
Untaten irgendwie bereute«.
Ganz im Gegenteil, als er nach und nach die einzelnen Schritte seines Plans rekapitulierte, schien er so etwas wie Stolz auf seine Klugheit zu demonstrieren.
»Wir haben den Eindruck gewonnen«, schrieb der Evening Standard , »daß er sich noch nachträglich in einer Weise für seine Taten begeistert, die uns völlig unverständlich ist.«
Diese Begeisterung, dieses Vergnügen erstreckte sich auch auf die detaillierte Darlegung der Schwächen einzelner Zeugen, die selbst nur höchst widerwillig und zögernd aussagten. Mr. Trent etwa zeigte sich höchst nervös, zerfahren und verlegen (»und das mit gutem Grund«, wie ein aufgebrachter Zuschauer bemerkte) über das, was er zu berichten hatte, während Mr. Fowler seine Erlebnisse mit so leiser Stimme zu Gehör brachte, daß der Ankläger ihn wiederholt auffordern mußte, lauter zu sprechen.
Manches, was Pierce aussagte, versetzte den Anwesenden einen Schock. So zum Beispiel der folgende Wortwechsel, zu dem es am dritten Tag seines Auftretens vor Gericht kam: »Mr. Pierce, kennen Sie den Kutscher Barlow?«
»Ich kenne ihn.«
»Können Sie uns mitteilen, wo er sich gegenwärtig aufhält?«
»Das kann ich nicht.«
»Können Sie uns sagen, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben?«
»Ja, das kann ich.«
»Dann seien Sie so gut und sagen Sie es uns.«
»Ich habe ihn zuletzt vor sechs Tagen gesehen, als er mich in Coldbath Fields besucht hat.« (An dieser Stelle wurde im Gerichtssaal aufgeregtes Stimmengewirr laut. Der Vorsitzende schlug mit dem Hammer auf den Richtertisch, um die Ordnung wiederherzustellen.) »Mr. Pierce, warum haben Sie uns diese Information nicht schon früher zuteil werden lassen?«
»Man hat mich nicht danach gefragt.«
»Was war der Gegenstand Ihrer Unterhaltung mit diesem Barlow?«
»Wir haben über meine Flucht gesprochen.«
»Dem darf ich also entnehmen, daß Sie mit Hilfe dieses Mannes auszubrechen gedenken?«
»Eigentlich sollte das eine Überraschung werden«, antwortete Pierce ruhig.
Das Gericht zeigte sich zutiefst konsterniert, und die Zeitungen berichteten in heller Empörung von dieser Äußerung:
»Dieser Mann ist ein durch und durch verdorbener, skrupelloser und gottloser Feind des Menschengeschlechts«, schrieb der Evening Standard . Es wurden Stimmen laut, man möge Pierce zu einer möglichst schweren Strafe verurteilen.
Pierce behielt sein ruhiges Auftreten aber unbeirrt bei. Er fuhr fort, das Gericht durch kühl vorgebrachte Unverschämtheiten in Atem zu halten. Am 1. August zum Beispiel bemerkte er ganz nebenbei über Mr. Henry Fowler: »Er ist ein genauso großer Dummkopf wie Mr. Brudenell.«
Der Ankläger wollte dem Angeklagten diese Bemerkung nicht ohne weiteres durchgehen lassen. »Sie meinen Lord Cardigan?« fragte er.
»Ich meine Mr. James Brudenell.«
»Das ist aber doch Lord Cardigan, nicht wahr?«
»Sie mögen ihn nennen, wie es Ihnen beliebt, aber für mich ist er nichts weiter als Mr. Brudenell.«
»Sie beleidigen einen Peer und den Generalinspekteur der Kavallerie.«
»Einen Narren«, versetzte Pierce mit seiner gewohnten Ruhe, »kann man nicht beleidigen.«
»Sir, Sie sind des gemeinsten Verbrechens angeklagt. Darf ich Sie daran erinnern?«
»Ich habe niemanden getötet«, entgegnete Pierce, »aber wenn durch meine unglaubliche Dummheit fünfhundert Engländer zu Tode gekommen wären, sollte man mich sofort aufknüpfen.«
Dieser Wortwechsel fand sich nur in einigen Blättern an versteckter Stelle. Die Zeitungsherren fürchteten, Lord Cardigan könne sie wegen Verleumdung verklagen. Im übrigen aber hatte Pierce mit seiner Aussage an den Grundfesten einer Gesellschaftsstruktur gerüttelt, die, wie man sehr wohl wußte, bereits von verschiedenen Seiten angegriffen wurde. Kurzum, der »Meisterverbrecher« verlor immer mehr an Anziehungskraft.
Überdies konnte es der Prozeß gegen Pierce nicht mit den Berichten über wild mit den Augen rollende »Nigger« aufnehmen – so nannte man die aufständischen Inder –, die einen Raum voller Frauen und Kinder stürmten, die Frauen vergewaltigten und töteten, die schreienden Kinder massakrierten und »sich einem haarsträubenden Schauspiel hingaben, das in seinem blutrünstigen und heidnischen Atavismus jeder Beschreibung spottet.«
Das Ende
Pierce sagte am 2. August zum letztenmal aus. An diesem Tag entschloß sich der Ankläger, in seiner Vernehmung einen bisher unberücksichtigten Aspekt zur Sprache zu bringen. Er war sich
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