Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
auch Brutalitäten geben – so machten sich die Schlachter dort ein Vergnügen, das Geflügel bei lebendigem Leib zu rupfen –, aber andererseits war es unzweifelhaft auch ein angenehmes Land. In Sydney gab es bereits Gasbeleuchtung in den Straßen, man sah dort vornehme Wohnhäuser und Frauen mit kostbarem Schmuck. Kurz, die Stadt konnte sich sehen lassen. Ein Mann wie Agar brauchte eine Verbannung dorthin also nicht unbedingt als Unglück zu betrachten.
Wider Erwarten reagierte er jedoch äußerst erregt. Offensichtlich wollte er England nicht verlassen. Als Harranby dies sah, faßte er wieder Mut. Er erhob sich.
»Das wäre alles für heute«, sagte er. »Sollten Sie in ein paar Tagen das Gefühl haben, Sie hätten mir etwas mitzuteilen, brauchen Sie nur den Wärtern in Newgate Bescheid zu sagen.« Agar wurde aus dem Zimmer geführt. Harranby setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Sharp trat zu ihm.
»Was haben Sie denn da vorhin vorgelesen?« fragte er. Harranby nahm den Bogen vom Schreibtisch. »Ein Rundschreiben von der Gebäudeverwaltung«, sagte er, »in dem mitgeteilt wird, daß Kutschen nicht mehr auf dem Innenhof abgestellt werden dürfen.«
Drei Tage später sagte Agar zu den Wärtern in Newgate, er wünsche, Mr. Harranby erneut vorgeführt zu werden. Am 13. November erzählte Agar Harranby alles, was er über den Raub wußte. Dafür wurde ihm zugesagt, er dürfe auf milde Bestrafung hoffen. Unter Umständen werde sogar eine der beteiligten Institutionen – die Bank, die Eisenbahngesellschaft oder gar die Regierung selbst – ihm einen Teil der ausgesetzten Belohnungen zuerkennen.
Agar wußte nicht, wo das Geld versteckt war. Er sagte, Pierce habe ihm monatliche Zuwendungen in Banknoten zukommen lassen. Pierce und seine Komplicen hatten sich nämlich vor der Tat darauf geeinigt, die Beute erst zwei Jahre nach dem Raub, also im Mai des folgenden Jahres, 1857, zu teilen.
Agar wußte dafür aber, wo Pierce’ Haus lag. Am Abend des 13. November umstellten Männer von Scotland Yard das Haus des Edward Pierce alias John Simms und betraten es mit gezogenen Pistolen. Der Hausherr war jedoch nicht anwesend. Die verängstigten Dienstboten erklärten, er habe die Stadt verlassen, um sich am folgenden Tag in Manchester einen Faustkampf anzusehen.
Z w ei Freunde des Boxsports
Strenggenommen waren Faustkämpfe während des 19. Jahrhunderts in England verboten. Trotzdem fanden sie statt und zogen immer wieder riesige Zuschauermengen an. Die Notwendigkeit, den Behörden ein Schnippchen zu schlagen, führte dazu, daß oft ein großer Kampf in letzter Minute von einer Stadt in die andere Stadt verlegt werden mußte. Aber viele der zahllosen Anhänger dieses Sports scheuten sich nicht, notfalls auch quer durchs Land zu reisen, um einen Kampf zu sehen.
Der für den 19. November angesetzte Kampf zwischen Schmetter-Tim Revels, dem »Boxenden Quäker«, und seinem Herausforderer Neddy Singleton hatte ursprünglich in Liverpool stattfinden sollen, wurde dann aber in eine kleine Stadt namens Eagle Welles und schließlich nach Barrington außerhalb von Manchester verlegt. Über zwanzigtausend Freunde des Boxsports besuchten den Kampf.
Sie wurden enttäuscht.
Damals gab es für das Preisboxen Regeln, die so anders waren als die heutigen Regeln, daß ein Zuschauer unserer Tage eine solche Veranstaltung kaum als Boxkampf ansehen würde. Man boxte mit bloßen Fäusten, schlug aber nicht zu fest zu, damit man sich die eigenen Hände und Handgelenke nicht verletzte. Ein Boxer, dem das widerfuhr, hatte den Kampf so gut wie verloren. Die einzelnen Runden waren verschieden lang, und auch die Gesamtdauer eines Kampfes war vorher nicht festgelegt. Ein Match ging oft über fünfzig oder achtzig Runden und dauerte so mitunter fast einen ganzen Tag. Ziel des Kampfes war für beide Kämpfer, den Gegner mit einer langen Reihe von Haken und Schwingern zu zermürben. Einen Knockout strebte niemand an. Im Gegenteil, ein richtiger Faustkämpfer trachtete danach, seinen Gegner langsam in die Knie zu zwingen.
Neddy Singleton wurde von der ersten Runde an von Schmetter-Tim hoffnungslos deklassiert. Neddy bediente sich schon von Anfang an des Tricks, bei jedem Treffer, den er einstecken mußte, in die Knie zu gehen, damit er verschnaufen konnte. Die Zuschauer zischten und buhten über diese unfaire List, die aber durch nichts verhindert werden konnte, zumal der Ringrichter – dem es oblag, einen Niedergeschlagenen bis zehn
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