Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
hältst?«
Mr. Fowler war keineswegs gekränkt, sondern lächelte wohlwollend. Er selbst trank nur mit Maßen und betrachtete die Schwächen derer, die dem Alkohol reichlicher zusprachen, mit bescheidener Selbstzufriedenheit. »Ich trage ihn«, sagte er, »an einer Kette um den Hals.« Er klopfte sich mit der flachen Hand auf die gestärkte Hemdbrust. »Ich habe den Schlüssel immer bei mir, zu jeder Zeit, selbst beim Baden – sogar im Bett. Ich habe ihn immer am Körper.« Er lächelte breit. »Also, meine Herren, wie Sie sehen, dieser rüde Anschlag eines törichten Kindes der gefährlichen Klassen kann der Firma Huddleston & Bradford keinerlei Kopfzerbrechen bereiten. Dieser kleine Schurke hatte nicht mehr Chancen, das Gold zu stehlen, als ich etwa die Chance habe, nun – zum Mond zu fliegen.«
An dieser Stelle erlaubte Mr. Fowler sich ein glucksendes Lachen. Der Gedanke war zu absurd. »Also, meine Herren«, sagte er, »sind Sie in der Lage, bei unseren Vorkehrungen irgendeine schwache Stelle auszumachen?«
»Kein Gedanke«, sagte Mr. Bendix kalt.
Mr. Pierce aber zeigte mehr Wärme. »Ich muß Ihnen gratulieren, Henry«, sagte er. »Dies ist in der Tat die raffinierteste Sicherheitsvorkehrung für den Versand von Wertgegenständen, von der ich je gehört habe.«
»Das ist in etwa auch meine Meinung«, sagte Mr. Fowler. Kurz darauf brach Mr. Fowler auf. Er erhob sich mit der Bemerkung, wenn er nicht bald bei seiner Frau zu Hause sei, werde sie vermuten, er sei auf Abwege geraten. »Und ich würde nur ungern für eine Sünde büßen, deren Freuden ich nicht genossen habe.«
Diese Bemerkung rief in der Runde Gelächter hervor.
Zum Abschied genau der richtige Ton, sagte sich Mr. Fowler. Männer von Welt wünschen sich ihre Bankiers umsichtig, aber nicht prüde. Es war ein guter Abgang.
»Darf ich Sie hinausbegleiten?« sagte Pierce und erhob sich ebenfalls.
Der Dienstraum
Englands Eisenbahnen entwickelten sich mit so phänomenaler Geschwindigkeit, daß die Stadt London davon überwältigt wurde und es nie zum Bau eines Hauptbahnhofs brachte. Statt dessen trieb jede der privaten Eisenbahngesellschaften ihre Gleisstrecken so weit wie möglich ins Londoner Stadtgebiet hinein und errichtete dann einen Kopfbahnhof. Um die Mitte des Jahrhunderts wurde dieses Verfahren immer heftiger angegriffen. Die Vertreibung armer Menschen, deren Behausungen den neuen Bahnlinien weichen mußten, war eines der Argumente. Ein anderes wandte sich dagegen, daß den Reisenden die Unbequemlichkeit zugemutet wurde, mit der Pferdekutsche durch London zu fahren, um auf einem anderen Bahnhof einen Anschlußzug zu erreichen.
1846 schlug Charles Pearson vor, nach seinen Entwürfen einen gewaltigen Hauptbahnhof bei Ludgate Hill zu errichten. Der Plan wurde jedoch nie verwirklicht. Nach dem Bau verschiedener anderer Bahnhöfe – die jüngsten waren die 1851 fertiggestellten Bahnhöfe Victoria Station und King’s Cross – wurden wegen der wütenden Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit weitere Bauvorhaben zurückgestellt.
Die Pläne zum Bau eines Londoner Hauptbahnhofs wurden schließlich ganz aufgegeben. Es wurden weitere, verstreut an der Peripherie der Stadt liegende Einzelbahnhöfe errichtet. Als der letzte, Marylebone Station, 1899 seiner Bestimmung übergeben wurde, besaß London fünfzehn Bahnhöfe, mehr als doppelt soviel wie jede andere Großstadt in Europa. Das verwirrende Durcheinander von Linien und Fahrplänen wurde offensichtlich nur von einem Bürger Londons je gemeistert – von Sherlock Holmes, der sie alle im Kopf hatte.
Der Baustopp um die Mitte des Jahrhunderts brachte einige der neuen Bahnlinien in arge Verlegenheit. Eine davon war die South Eastern Railway, welche die Strecke von London nach der etwa achtzig Meilen entfernten Stadt Folkestone an der Kanalküste betrieb. Die South Eastern erhielt erst 1851 nach dem Umbau des London Bridge-Bahnhofs Zugang zur Stadtmitte Londons.
Am Südufer der Themse, in der Nähe der Brücke, die ihm den Namen gegeben hatte, lag der London Bridge-Bahnhof, der älteste der Stadt. Ursprünglich war er von der London & Greenwich Railway erbaut worden. Er hatte sich nie sonderlicher Beliebtheit erfreut und wurde, was Entwurf und Gestaltung betraf, viel geschmäht, etwa im Vergleich mit den später entstandenen Bahnhöfen Paddington und King’s Cross. Als der Bahnhof 1851 jedoch umgebaut wurde, erinnerte die Illustrated London News daran, daß die alte Station »wegen der
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