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Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Titel: Der Grosse Eisenbahnraub: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Crichton
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viktorianischen Gesellschaft, hat einmal einen Katalog der verschiedenen Verbrechertypen in England zusammengestellt. Der Katalog umfaßt fünf Hauptkategorien, zwanzig Unterabteilungen und über einhundert verschiedene Eintragungen. Der heutige Leser stellt verblüfft fest, daß jeder Hinweis auf »Verbrecher im weißen Kragen« fehlt.
    Natürlich gab es auch damals schon diesen Tätertyp. Einige flagrante Beispiele von Unterschlagung, Urkundenfälschung, Buchführungsschwindel, Manipulationen mit Wertpapieren und ähnlichen Delikten sind uns aus der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt geworden. 1850 etwa wurde ein Versicherungsangestellter namens Walter Watts gefaßt, nachdem er mehr als 70.000 Pfund Sterling unterschlagen hatte.
    Aber es gab noch schwerwiegendere Verbrechen: Leopold Redpath, ein Angestellter der Great Northern Railway Company, brachte durch Urkundenfälschungen 150.000 Pfund an sich, und Beaumont Smith setzte gefälschte Schatzanweisungen im Wert von 350.000 Pfund ab; um nur zwei Beispiele anzuführen.
    Damals wie heute ging es bei Wirtschaftsverbrechen um die größten Beträge. Die Gefahr, gefaßt zu werden, war vergleichsweise gering, und wenn ein Teilnehmer überhaupt erwischt wurde, kam er mit einer vergleichsweise milden Strafe davon. Henry Mayhews Katalog ignoriert diesen Tätertyp jedoch vollständig. Denn Mayhew war sich mit der Mehrheit seiner Zeitgenossen darüber einig, daß Kriminalität ein Produkt der »gefährlichen Bevölkerungsschichten« sei und kriminelles Verhalten im allgemeinen der Armut, der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung und dem Mangel an Erziehung entspringe. Man hätte meinen können, es sei nur eine Frage der Definition: jemand, der nicht der kriminellen Klasse entstammte, konnte auch keine Verbrechen verüben. Angehörige der besseren Stände »verstießen nur gegen das Gesetz«. Zu dieser spezifisch viktorianischen Einstellung gegenüber Verbrechen, die von Angehörigen der besseren Stände begangen wurden, haben verschiedene klassenbedingte Faktoren beigetragen.
    Erstens: In der noch neuen kapitalistischen Gesellschaft, in der Tausende neuer Unternehmen aus dem Boden schossen, waren die Grundsätze ehrlicher Buchführung noch nicht fest verwurzelt. Die Methoden der Buchführung waren damals sogar noch variabler als heute. Damals konnte jemand durchaus den Unterschied zwischen betrügerischen Machenschaften und »gewieftem Geschäftsgebaren« verwischen und sich dennoch eines einigermaßen reinen Gewissen erfreuen.
    Zweitens: Der heutige Wachhund in allen kapitalistischen Ländern des Westens, die Regierung, war damals nicht im entferntesten so wachsam wie heute. Private Einkommen unter 150 Pfund im Jahr wurden überhaupt nicht besteuert, und die überwiegende Mehrheit aller Bürger hatte ein Einkommen, das unterhalb dieser Grenze lag. Wer überhaupt besteuert wurde, kam – an heutigen Maßstäben gemessen – glimpflich davon. Obwohl die Bürger schon damals über die Kosten von Regierung und Verwaltung klagten, sah sich doch niemand veranlaßt, verzweifelte Verrenkungen anzustellen, wie manche es heute tun, um möglichst wenig Steuern zu zahlen. (1870 machten die Steuern in England neun Prozent des Bruttosozialprodukts aus; 1961 war die Steuerlastquote auf 38 Prozent gestiegen.) Überdies akzeptierten die Menschen der viktorianischen Ära, welcher Gesellschaftsschicht sie auch angehörten, im Umgang mit ihren Mitmenschen eine Gefühllosigkeit und Roheit, die uns heute empörend und unverständlich erscheinen. Um nur ein Beispiel anzuführen: Als Sir John Hall, der Generalarzt der auf der Krim kämpfenden Truppen, beschloß, sich der unbequemen Florence Nightingale zu entledigen, wählte er die Methode des Aushungerns und ordnete an, ihr die Verpflegung zu streichen. Solche hinterhältigen Maßnahmen wurden als alltäglich hingenommen.
    Miss Nightingale, »der Engel der Schlachtfelder«, hatte schon damit gerechnet und sich mit eigenen Lebensmittelvorräten eingedeckt. Selbst ein Lytton Strachey, keineswegs verdächtig, seine Zeitgenossen zu hätscheln, tat diese unglaubliche Gemeinheit als »Trick« ab.
    Wenn dies nur ein Trick gewesen sein soll, wird mühelos verständlich, warum Angehörige des Mittelstands viele Manifestationen gesetzwidrigen Verhaltens nur zögernd mit dem Etikett »Verbrechen« versahen. Und je höher ein einzelner auf der Stufenleiter der Gesellschaft stand, um so größer wurde die Zurückhaltung.
    Ein Fall, der dies

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