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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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auch hinter den Schleiern vor.
    Er blickte auf zum Himmel, der über dem Platzrund, trotz der verschwundenen Sonne, immer noch hell war, während an den Horizonten die Schwärze der Gewitterbänke zunahm. Der Abendwind war ein Vorgewitterwind, mit starken Böen, und aus den Himmelhöhen schwirrten, wie von den Parks und Alleen der ganzen Stadt her, Schwärme von Lindenblüten, mit Kügelchen an den Stengeln, spiralten im Fallen um sich selber und stellten, indem sie zudem den Himmel verdüsterten, eine Aufeinanderfolge von auf dem Platz landenden Fallschirmgeschwadern vor. In dem nach den Böen wieder leeren und hellen Himmel formte sich über dem Platz, aus Bahnen von da noch taghellen Wolken, durchschossen von Kondensstreifen, ein firmamentweites Röntgenbild, Rippen, in die Kreuz und in die Quer, wie zerbrochen und fragmentiert das übrige Gerippe,die Röntgenaufnahme eines noch nie gesehenen Wesens. Dieser Himmel oben gehörte nicht zu der Erde darunter, oder umgekehrt. Dazu der Gedanke, er werde nie mehr zurückkehren, in sein Land, in Haus und Garten dort.
    Die Laternen flammten auf im Kreis. Kein Himmel mehr zu sehen, auch nicht zu spüren. Der Schauspieler scherte aus aus der Menge, setzte sich in eins der weitläufigen Lokale am Platz, mit Blick durch die Glasfront ins Freie, und schrieb dort einen Brief an seinen Sohn, und der ging etwa so: »Mein lieber Sohn! Solange Du ein Kind und ein Heranwachsender warst, hätte ich für Dich alles stehen und liegen lassen, meinen Beruf, jede Frau, jedes Vergnügen. Ich sah Dich als einen, der meiner bedürftig war wie sonst niemand, auch wenn Dir das gar nicht bewußt war. Ich sah Dich als Erdenwurm, und mich als den Retter. Dann wurdest Du ein Erwachsener, und Du kamst mir aus dem Sinn. Anfangs hat mich das empört, aber mit der Zeit kam mir vor, das sei die Weltordnung. Ist das die Weltordnung? Daß nicht die erwachsenen Kinder eines Mannes seine Familie sind, sondern die Vorfahren, die Toten? Das einzige, was ich Dir je sein wollte, war, Dich zu ernähren. Und das einzige, was ich von Dir je erwartet habe: Von Dir zu lernen. Und so ist es im Grunde immer noch. Und so erwarte ich Dein Urteil als Dein Vater.«
    Erst als er den Brief in ein Kuvert steckte, das Teil seiner immer zur Hand befindlichen Siebensachen war, fiel ihm ein: sein Sohn hatte schon seit langem keine Adresse mehr, bewegte sich quer durch die Kontinente, im Augenblick, in der Nachfolge der Abenteuerin, seiner Mutter, und auf ihren Spuren – die es nicht gab, nie hatte sie eine Spur hinterlassen – den Yukon stromab durch Alaska, äugend, hinhörend, zeichnend, Anblicke (die fast mikroskopischen, zu seinen Füßen) und Geräusche (die an der Hörgrenze). Ihm den Brief elektronisch zukommen lassen? Der Brief war ein Brief, und hatte als solcher eine Strecke im Raum und vor allem in der Zeit zurückzulegen. Er durfte nicht augenblicks in Alaska sein, er hatte zu reisen, Tage um Tage. Nur so würde er ankommen, und nur so täte, was in ihm geschrieben stand, seine Wirkung.
    Ein Briefkasten, ein klassischgelber, mannshoher, zweiflügeliger, ein Flügel für die Ortspost, der andere für die Weltrichtungen, stand draußen auf dem Gehsteig in Reichweite. Er hätte von seinem Fensterplatz aus den Brief zwischen den sommerlich aufgeschobenen Frontscheiben in den »Ganze-Welt«-Schlitzstecken können. Doch er saß nur da und betrachtete den Briefkasten wie das Geschehen um ihn herum. Mit dem zunehmenden Nachtwerden vermehrte sich die Zahl der Briefeinwerfer. Es gab dann eine Zeitspanne, da sie von allen Seiten daherströmten, einer nach dem andern, und sich zuletzt vor den Schlitzen stauten und eine Warteschlange bildeten, besonders vor dem Einwurf für die Fern- und Auslandspost. Die Post an Ämter undsoweiter, mit vorgedruckten Adressen, war in der Minderheit, die meisten Kuverts zeigten Handschriften. Es wurden also, nach einer Epoche des Versiegens und wie endgültigen Versiegtseins, wieder Briefe geschrieben. Hast du Worte! Der Andrang wurde sogar größer und größer. »Endzeit«? Schon die Trampelpfade, noch und noch, vorher auch mitten in der Kapitale, hatten das Lügen gestraft.
    Antlitz, wo verbirgst du dich? Indem er über die Schulter Ausblick hielt, zeigte es sich, wie von der Frage herbeigerufen, an einem der Tische hinten in dem hell erleuchteten Lokal. Da saßen zwei junge Frauen. Nur von der einen zeigte sich ihm das Gesicht. Es war blaß, ohne die Blässe, die von geschlossenen Räumen

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