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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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rührte. Diese Blässe erschien behaucht vor allem vom Reden. Und die Frau sprach in einem fort. Aber wie sie sprach, ohne eine einzigeGeste, ohne eine Miene zu verziehen und dabei das Gesagte doch leichthin begleitend mit einem Mienen-Spiel, das ihr Gesicht mit einem Zusatz versah, welcher es durchleuchtete und in ein Antlitz verwandelte. Die Frau, wie sie so sprach, äußerte sich mit ihrer ganzen Seele, und das geschah dabei vollkommen ruhig, ohne einen Flitter von Äußerlichkeit. Was sprach sie? Sein Lippenlesen, bei ihr versagte es. Was auf ihn überging, war einzig ein Staunen, zugleich Klagen, Sicherbarmen (ein kindliches), zugleich Danksagen, zugleich Sichbelustigen, zugleich Sichfragen, alles in einem, begleitet von einem stetigen Nicken wie Kopfschütteln. Sie sprach in einem fort, ja. Was für ein Sprechen freilich, ohne je ein Urteilen! Ein Erzählen? Ja, aber da war noch etwas anderes. So wie die Frau erzählte, beschwor sie, beschwor etwas, das gewesen war, und beschwor zugleich eine Instanz in der Zukunft, und das war es zuerst und zuletzt, was ihr ein Antlitz machte. Was für ein Geschenk. Es gab nichts Drittes. Man brauchte nichts Drittes.
    Dann eine Plötzlichkeit: Die Frau verstummte, mitten in einem Satz, und der Schauspieler sah von weitem, daß sie errötete, und wie.
    In diesem Augenblick erkannte er sie. Er erkannte sie, indem er Zeuge ihres Errötens wurde. Das dort war sie, die Frau, mit welcher er die letzte Nacht verbracht hatte. Hast du Worte! Immer wieder im Leben hatte er die ihm Nächsten, seine Angehörigen, sein Kind, außer Haus, an einem öffentlichen Ort, auf der Straße, in der Tram, für Fremde gehalten. Scham überkam ihn. Aber nicht, weil er sie, die Frau, nicht erkannt hatte, sondern weil ihm aufging: Sie hatte von ihm und sich gesprochen, sie hatte der anderen Frau von sich und ihm erzählt, und von diesem Erzählen war das Leuchten in ihr Gesicht getreten. Die Scham überwältigte ihn darüber hinaus, weil ihm einfiel, wie er am Morgen, allein in ihrem Haus, vorgehabt hatte, sie am Abend auszufragen. Ah, die Frivolitäten des Alleinseins. Nicht wiedergutzumachen. Er war der Frau nicht würdig. Er verdiente es nicht, diesem Antlitz nahe zu sein. Sämtliche Raben von Alaska sollten auf der Stelle über ihn herfallen! Er hatte ihre Liebe mißbraucht. Er hatte ihre Liebe verraten. Und er erkannte, wie oft er schon verraten hatte, oder nah dran gewesen war. War er demnach bloß, wie die Ahnungslosen, die Dümmsten der Dummen, sagten, »ein typischer Schauspieler«? Sie, er und sie dort, hatten nie etwas miteinander gehabt. Es war nichts, bis jetzt, ganz und gar nichts gewesen zwischen ihnen! Sie hatten einander nicht einmalgeküßt, geschweige denn gehalst oder gar geherzt. Und im nachhinein entzifferte er jetzt ihre Worte: »Mit ihm: öffnet sich in mir ein Flügel, von dem ich nicht wußte, daß er da war. Und erstmals in der Liebe bin ich ohne Erwartung – nichts als perplex. Ohne darauf aus zu sein, rettet er mich, und rettet mich wieder, und rettet mich von neuem.« Und was hatte er ihrem Gesicht abgelesen? Daß es, dieses Gesicht da, die Macht war, die wahre, die rechtmäßige – ein Mißbrauch undenkbar.
    Wie es sich traf, betrat in ebendem Augenblick der Regisseur, in dessen Film er tags darauf auftreten sollte, das Lokal. Der hatte ihm noch gefehlt. Fast so schlimm, als wäre er auf der Straße einem »Kollegen« begegnet. Sich abwenden, aufstehen und verschwinden hin zu den hintersten Räumen! Und wie es sich wiederum traf, gab es dort einen Notausgang, und schon war mein Schauspieler im Freien. Dazu paßte, daß er sich, eine kurze Strecke weg vom Zentralplatz, mit dem einen Schritt hinaus, obwohl mitten in der Stadt, in einer ganz anderen Weltgegend befand. Die Geräusche anders, die Gerüche, und ebenso die Luft und das Licht. Licht? Die Gegend war ohne Straßenbeleuchtung, und es war auch keine Straße, eher eine Schneise, eine breite, fast ein zweiter Platz, der übriggeblieben schien von viel früherund überwuchert wurde von Gras, Büschen, kleinen Bäumen, stärkerem Wildwuchs womöglich als die Lichtung oben auf dem Plateau jenseits der Peripherie. Wie er das sah, ohne Laternen, ohne beleuchtete Häuser? Er sah es, und außerdem spielte rund um den Himmel oben, ohne Blitze und Donner, ein beständiges Wetterleuchten, in dessen Aufflackern die Einzelheiten deutlich hervortraten, deutlicher als in gleichwelchem Licht sonst, und sich dann im Dunkeln als

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