Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
Tausenden verließen die Leute die Hotels, die Züge wurden gestürmt, selbst die Gutgläubigsten begannen jetzt schleunigst ihre Koffer zu packen. Auch ich sicherte mir, kaum daß ich die Nachricht von der österreichischen Kriegserklärung an Serbien hörte, ein Billett, und es war wahrhaftig Zeit. Denn dieser Ostendeexpreß wurde der letzte Zug, der aus Belgien nach Deutschland ging.» Bereits auf deutschem Staatsgebiet angekommen, blieb der Zug auf offener Strecke stehen. «Und da sah ich im Dunkeln einen Lastzug nach dem andern uns entgegenkommen, offene Waggons, mit Plachen [Planen] bedeckt, unter denen ich undeutlich die drohenden Formen von Kanonen zu erkennen glaubte.» [185] Zweig wurde klar, dass er mitten in den Aufmarsch der deutschen Truppen hineingeraten war.
Der Antikapitalismus der deutschen Helden
Opferbereitschaft, ja «Opferfreudigkeit» war in der Tat vonnöten, wenn die Deutschen diesen Krieg gegen eine an Menschen und Material weit überlegene Koalition führen wollten. Die Vorstellung, man müsse die Überlegenheit der Gegenseite durch einen stärkeren Willen, ein höheres Maß an Tugendhaftigkeit und Pflichterfüllung sowie schließlich größere Opferbereitschaft wettmachen, scheint von Anfang an präsent gewesen zu sein: [414] «Opfer der Eigensucht, Opfer des Eigentums, Opfer des Eigenwillens, das sind die Taten, die Gott und Vaterland zunächst von uns allen heischen.» [415] Die allgemeine Opferbereitschaft stand also nicht nur für eine sittliche Reinigung der Menschen, eine Überwindung des Materialismus durch den wiedererstandenen Idealismus, sondern sollte auch die Voraussetzung dafür sein, dass die Deutschen den Krieg gegen «eine Welt von Feinden» überhaupt führen konnten. Kriegerische Sinnstiftung und moralische Aufrüstung gingen hier Hand in Hand; das eine war die Voraussetzung des anderen. «Unser Siegesglaube», so der evangelische Pfarrer Traub am 8 . August 1914 , dem vom Kaiser angeordneten «Kriegs-Buß- und Bettag», «ruht nicht […] auf Zahl und Vorbereitung, nicht in der Zuversicht auf die stärkeren Bataillone. Denn an Menschen und Schiffen haben die andern wohl noch mehr.» [416] Die Rückeroberung Lembergs im Juni 1915 war für den Tübinger Theologieprofessor Paul Wurster ein Beleg dafür, dass Gott es gut meine mit den Deutschen und ihre Opfer angenommen habe: «Der Herr hat Großes an uns getan! […]
Singet dem Herrn ein neues Lied!
Die Rechnung mit der großen Zahl unserer Gegner im Osten ist zuschanden geworden.
Der Riese wird nicht errettet durch seine große Kraft
(Psalm 33 , Vers 16 ). Wie sicher hatten alle unsere Feinde damit gerechnet, daß der große Strom von jenseits der Weichsel uns überfluten werde! Erdrückt sollten wir werden durch die Masse; Bildung und innere Tüchtigkeit, Recht und gutes Gewissen sollten nichts mehr gelten, nur noch die große Zahl. Nun haben sie doch nicht recht behalten, auch die Zweifler bei uns nicht, die den Erfolg und selbst Gottes Beistand nur da sehen wollten, wo die zahlreicheren Bataillone stehen. […]
Der Herr macht zunichte der Heiden Rat und wendet die Gedanken der Völker
(Vers 10 ).» [417]
Die politisch-militärische Lage der Deutschen – der Kampf eines auf sich allein gestellten Volkes, umzingelt von einer feindlichen Übermacht, die es zu vernichten trachtet – gemahnte manche Zeitgenossen an die Bedrängnis, in der sich dem Alten Testament zufolge das Volk Israel befunden hatte. Von daher verwundert es nicht, dass in einigen Predigten die Deutschen in die Rolle des von Gott auserwählten Volks gerückt und der Krieg als ein Werkzeug begriffen wurde, mit dem Gott seine Pläne in der Welt verfolgt. So predigte der Rektor der Gießener Universität, der Theologe Samuel Eck, nach den ersten Erfolgen der deutschen Truppen im Westen über Jesaja 7 , Vers 9
Wir glauben, darum bleiben wir
: «Wenn wir dem danken, der die Schalen des Völkergerichts in seinen Händen hält, dann können wir nicht anders als in der Gewißheit leben: Es war
sein Wille
, daß wir siegten. Dafür danken wir. Anders kann man es nicht tun. Anders wollen wir ihm nicht danken. Wir wollen es tun in dem demütig stolzen Bewußtsein: Gott ist wirklich mit uns, seine Gedanken und sein Wille sind in den Waffen und den Herzen unserer Krieger, in den Plänen und Zielen unserer Kriegsleitung gewärtig. Er, der Herr der Weltgeschichte, nimmt und braucht das deutsche Volk, braucht uns als die Ausrichter seines Willens, als die
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