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Der große Schlaf

Der große Schlaf

Titel: Der große Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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kennenlernen. Er sollte wohl bewirken, daß ich mich auf den Rücken wälzte und alle viere von mir streckte.
    »Sind Sie Boxer?« fragte sie, als sie merkte, daß ich nicht zu Boden ging.
    »Eigentlich nicht. Ich bin Spürhund.«
    »Sie sind was?« Sie warf ärgerlich ihr Haar zurück, und das reiche Blond gleißte im Dämmerlicht der großen Halle. »Sie machen sich über mich lustig.«
    »Hmhm.«
    »Wie bitte?«
    »Nur weiter so«, sagte ich. »Sie haben mich schon verstanden.«
    »Sie haben ja gar nichts gesagt. Sie wollen mich nur auf den Arm nehmen.«
    Sie nahm ihren Daumen und biß hinein. Es war ein komischer Daumen, dünn und schmal wie ein sechster Finger und ohne Biegung im ersten Gelenk. Sie biß hinein und suckelte gemächlich dran herum und drehte ihn im Mund wie ein Baby seinen Schnuller.
    »Sie sind irrsinnig groß«, sagte sie. Dann kicherte sie belustigt in sich hinein. Darauf wandte sie, ohne die Füße zu heben, langsam und geschmeidig ihren Körper. Ihre Arme fielen schlaff herab. Sie neigte sich mir auf Zehenspitzen entgegen. Sie fiel mir einfach in die Arme. Ich mußte sie auffangen, wenn ich ihren Kopf nicht auf den Mosaikboden bumsen lassen wollte. So fing ich sie denn unter den Armen, und im Nu hing sie mir mit weichen Knien am Leibe. Ich mußte sie eng an mich drücken, um sie auf den Füßen zu halten. Als ihr Kopf an meiner Brust lag, sah sie zu mir hoch und kicherte.
    »Sie sind süß«, kicherte sie. »Aber ich bin auch süß.«
    Ich sagte überhaupt nichts. Also wählte der Butler diesen passenden Augenblick, um durch die Glastür zurückzukommen und sie in meinen Armen vorzufinden.
    Es schien ihn nicht weiter zu stören. Er war ein langer, dünner, silberhaariger Mann, so um die sechzig oder ein bißchen darüber.
    Seine blauen Augen blickten so gleichgültig, wie Augen nur blicken können. Seine Haut war glatt und hell, und er bewegte sich wie ein Mann mit sehr gesunden Muskeln. Er kam langsam durch die Halle auf uns zu, und das Mädchen riß sich von mir los. Sie flitzte durch den Raum zur Treppe und schoß hinauf wie ein Kitz. Sie war weg, bevor ich einmal tief Luft holen konnte.
    Der Butler sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Der General kann Sie jetzt empfangen, Mr. Marlowe.«
    Ich klappte die untere Kinnlade hoch und nickte ihm zu.
    »Wer war denn das?«
    »Miss Carmen Sternwood, Sir.«
    »Sie sollten sie mal entwöhnen. Sie ist alt genug.«
    Er blickte mich mit ernster Höflichkeit an und wiederholte, was er gesagt hatte.

2
    Wir gingen durch die Glastür hinaus und einen glatten rotgepflasterten Pfad entlang, der den weiten Rasen von der Garage trennte. Der jungenhaft aussehende Chauffeur hatte inzwischen einen großen schwarzen Chromschlitten herausgeholt und wienerte dran herum. Der Pfad lief am Treibhaus entlang, und der Butler öffnete mir eine Tür und trat beiseite. Sie führte in eine Art Vestibül, in dem es ungefähr so warm war wie in einem Backofen. Er trat hinter mir ein, schloß die äußere Tür und öffnete eine zweite, durch die wir eintraten. Nun war es erst richtig heiß. Die Luft war dick, feucht, dampfig und satt vom widerlichen Duft tropischer Orchideen in voller Blüte.
    Glaswände und Dach waren schwer beschlagen, und die Feuchtigkeit fiel in dicken Tropfen auf die Pflanzen herab. Das Licht war von gespenstischem Grün, wie Licht, das durch ein Aquarium dringt. Die Pflanzen wucherten wild durch den Raum, ein Urwald von Pflanzen mit ekelhaft fleischigen Blättern und Stengeln, die aussahen wie frischgewaschene Leichenfinger. Sie stanken wie brodelnder Alkohol unter einer Bettdecke. Der Butler lavierte mich durch, so gut es ging, ohne daß mir die glitschigen Blätter ins Gesicht klatschten, und nach einer Weile kamen wir mitten im Dschungel auf eine Lichtung unter dem Kuppeldach. Hier war auf sechseckigen Fliesen ein alter, roter, türkischer Teppich ausgelegt, und auf dem Teppich stand ein Rollstuhl, und im Rollstuhl saß ein alter und offenbar sterbender Mann und blickte uns mit schwarzen Augen entgegen, in denen längst alles Feuer erloschen war; doch noch immer hatten sie die kohlschwarze Direktheit jener Augen auf dem Porträt, das über dem Kamin in der Halle hing. Das übrige Gesicht war maskenhaft starr, mit den blutleeren Lippen und der scharfen Nase und den hohlen Schläfen und den nach außen gedrehten Ohrläppchen unwiderruflichen Zerfalls. Sein langer, hagerer Körper war - trotz der Hitze – in eine Reisedecke und einen verblichenen roten

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