Der gruene Heinrich [Erste Fassung]
lassen.
Dann gab man uns ein kleines Büchelchen, das erste einer ganzen Reihe, in welchem Pflichten und Haltung des angehenden Soldaten in wunderlichen Sätzen als Fragen und Antworten deutlich gedruckt und numeriert waren. Jeder Regel war aber eine tüchtige kurze Begründung beigefügt, und wenn auch manchmal diese in den Satz der Regel, die Regel aber hintennach in die Begründung hineingeraten war, so lernten wir doch alle jedes Wort eifrig und andächtig auswendig und setzten eine Ehre darein, das Pensum ohne Stottern herzusagen. Endlich verging der Rest des ersten Tages über den Bemühungen, von neuem geradestehen und einige Schritte gehen zu lernen, was unter dem Wechsel von Mut und Niedergeschlagenheit sich vollendete.
Es galt nun, sich einer eisernen Ordnung zu fügen und sich jeder Pünktlichkeit zu befleißen, und obgleich dies mich aus meiner vollkommenen Freiheit und Selbstherrlichkeit herausriß, so empfand ich doch einen wahren Durst, mich dieser Strenge hinzugeben, so komisch auch ihre nächsten kleinen Zwecke waren, und als ich einigemal nahe an der Strafe hinstreifte, und zwar nur aus Versehen, Überkam mich ein wahrhaftes Schamgefühl vor den Kameraden, welche sich ihrerseits ganz ähnlich verhielten.
Als wir soweit waren, mit Ehren über die Straße zu marschieren, zogen wir jeden Tag auf den Exerzierplatz, welcher im Freien lag und von der Landstraße durchschnitten wurde. Eines Tages, als ich mitten in einem Gliede von etwa fünfzehn Mann nach dem Kommando des Instruktors, der unermüdlich rückwärts vor uns herging, schreiend und mit den Händen das Tempo schlagend, so schon stundenlang den weiten Platz nach allen Richtungen durchmessen und vielfach in unseren Schwenkungen die vielen anderen Abteilungen gekreuzt hatte, kamen wir plötzlich dicht an die Landstraße zu stehen und machten dort halt und Front gegen dieselbe. Der Exerziermeister, welcher hinter der Front stand, ließ uns eine Weile regungslos verharren, um einige nicht schmeichelhafte Bemerkungen und Ausstellungen an unseren Gliedmaßen anzubringen. Während er hinter unserm Rücken lärmte und fluchte, soweit es ihm Gesetz und Sitte nur immer erlaubten, und wir so mit dem Gesichte gegen die Straße gewendet ihm zuhörten, kam ein großer, mit sechs Pferden bespannter Wagen angefahren, wie die Auswanderer ihn herzurichten pflegen, welche sich nach den französischen Häfen begeben.
Dieser Wagen war mit ansehnlichem Gute beladen und schien einer oder zwei stattlichen Familien zu dienen, die nach Amerika gingen. Zwei kräftige Männer gingen neben den Pferden, vier oder fünf Frauen saßen auf dem Wagen unter einem bequemen Zeltdache, nebst mehreren Kindern und selbst einem Greise. Aber diesen Leuten hatte sich Judith angeschlossen; denn ich entdeckte sie, als ich zufällig hinsah, hoch und schön unter den Frauen, mit Reisekleidern angetan. Ich erschrak heftig, und das Herz schlug mir gewaltig, während ich mich nicht regen noch rühren durfte. Judith, welche im Vorüberfahren, wie mir schien, mit finsterm Blicke auf die Soldatenreihe sah, erschaute mich mitten in derselben und streckte sogleich die Hände nach mir aus. Aber im gleichen Augenblicke kommandierte unser Tyrann »Kehrt euch!«
und führte uns wie ein Besessener im Geschwindschritte ganz an das entgegengesetzte Ende des weiten Platzes. Ich lief immer mit, die Arme vorschriftsmäßig längs des Leibes angeschlossen, »die kleinen Finger an der Hosennaht, die Daumen auswärts gekehrt«, ohne mir was ansehen zu lassen, obgleich ich heftig bewegt war; denn in diesem Augenblicke war es mir, als ob sich mir das Herz in der Brust wenden wollte. Als wir endlich das Gesicht wieder der Straße zukehrten, nach den maßgebenden Zickzackgedanken im Gehirne des Führers, verschwand der Wagen eben in weiter Ferne.
Glücklicherweise ging man nun auseinander, und indem ich mich sogleich entfernte und die Einsamkeit suchte, fühlte ich, daß jetzt der erste Teil meines Lebens für mich abgeschlossen sei und ein anderer beginne.
In diesem Frühling traf es sich noch, daß ich mich zugleich in anderer Weise zum ersten Mal als Bürger geltend machen durfte, indem eine Integral-Erneuerung der gesetzgebenden Behörde und die von dieser abhängige Erneuerung der verwaltenden und richterlichen Gewalt vor sich ging und die Wahlen dazu festgesetzt waren.
Als ich mich aber, hiezu aufgefordert, in einige Vorversammlungen und endlich am ersten Maisonntage in die Kirche begab, um meine
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