Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
oder aus törichter Neigung verneint wird; sonst aber ist sie ohne Verstand. Denn man reißt nicht stets nieder, um wieder aufzubauen; im Gegenteil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um freien Raum für Licht und Luft zu gewinnen, welche überall sich von selbst einfinden, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist. Wenn man den Dingen ins Gesicht schaut und sie mit Aufrichtigkeit behandelt, so ist nichts negativ, sondern alles ist positiv, um diesen Pfefferkuchenausdruck zu gebrauchen.
Wenn die Freiheit des Willens nun bei den untern Stufen unsers Geschlechtes und verwahrlosten einzelnen auch nicht vorhanden war, so mußte sie sich doch einfinden und entwickeln, sobald die Frage nach ihr sich einfand, und wenn Voltaires Trumpf: ›Gäbe es keinen Gott, so müßte man einen erfinden!‹ eher eine Blasphemie als ein ›positive‹ gute Rede war, so verhält es sich nicht also mit der Willensfreiheit, und hier dürfte man nach Menschenpflicht und – recht sagen Lasset uns diese Freiheit schaffen und in die Welt bringen!
Die Schule des freien Willens kann man am füglichsten mit einer Reitbahn vergleichen. Der Boden derselben ist das Leben dieser Welt, über welches auf gute Manier hinwegzukommen es sich handelt, und er kann zugleich den festen Grund der Materie vorstellen. Das wohlgeartete und geschulte Pferd ist das besondere, immer noch materielle Organ, der Reiter darauf der gute menschliche Wille, welcher jenes zu beherrschen und zum freien Willen zu werden trachtet, um auf edlere Weise über jenen derben Grund hinwegzukommen; der Stallmeister endlich mit seinen hohen Stiefeln und seiner Peitsche ist das moralische Gesetz, das aber einzig und allein auf die Natur und Gestalt des Pferdes gegründet ist und ohne dieses gar nicht vorhanden wäre. Das Pferd aber würde ein Unding sein, wenn nicht der Boden existierte, auf welchem es traben kann, so daß also sämtliche Glieder dieses Kreises durch einander bedingt sind und keines sein Dasein ohne das andere hat, ausgenommen den Boden der Materie, welcher daliegt, ob jemand darüber reite oder nicht. Nichtsdestoweniger gibt es gute und schlechte Reitschüler, und zwar nicht allein nach der körperlichen Befähigung, sondern vorzüglich auch infolge des entschlossenen Zusammennehmens. Den Beweis liefert das erste beste Reiterregiment, das uns über den Weg reitet. Die Scharen der Gemeinen, welche keine Wahl hatten, mehr oder weniger aufmerksam zu lernen, und nur durch eine eiserne Disziplin in den Sattel gewöhnt wurden, sind alle beinahe gleich zuverlässige Reiter; keiner zeichnet sich besonders aus und keiner bleibt zurück, und um das Bild eines ordentlichen Schlendrians des Lebens zu vollenden, kommen ihnen die zusammengedrängten und in die Reihe gewöhnten Pferde auf halbem Wege entgegen; und was etwa der Reiter versäumen sollte, tut sein Organ, das Pferd, von selbst. Erst wo dieser Zwang und Schlendrian, das bitter Notwendige der Masse aufhört, beim löblichen Offizierskorps, gibt es sogenannte gute Reiter, schlechtere und vorzügliche Reiter; denn diese haben es in ihrer Gewalt, über das geforderte Maß hinaus mehr oder weniger zu leisten. Das Ausgezeichnete und Kühne, was der Gemeine erst im Drange der Schlacht, in unausweichlicher Gefahr und Not unwillkürlich und unbewußt tut, die großen Sätze und Sprünge, übt der Offizier alle Tage zu seinem Vergnügen, aus freiem Willen und sozusagen theoretisch; doch fern ist es von ihm, daß er deswegen allmächtig sei und nicht trotz allem Mute und aller Kraft einmal abgeworfen oder von seinem allzu widerspenstigen Tiere bewogen werden könne, durch ein anderes Sträßlein zu reiten, als er gewollt hat.
Wird aber der Steuermann, um auf ein anderes Bild zu kommen, zufälliger Stürme wegen, die ihn verschlagen können, der Abhängigkeit wegen von günstigen Winden, wegen schlechtbestellten Fahrzeuges und unvermuteter Klippen, wegen verhüllter Leitsterne und verdunkelter Sonne sagen: ›Es gibt keine Steuermannskunst!‹ und es aufgeben, nach bestem Vermögen sein vorgestecktes Ziel zu erreichen?
Nein, gerade die Unerbittlichkeit, aber auch die Folgerichtigkeit der tausend ineinandergreifenden Bedingungen müssen uns reizen, das Steuer nicht fahrenzulassen und wenigstens die Ehre eines tüchtigen Schwimmers zu erkämpfen, welcher in möglichst grader Richtung über einen stark ziehenden Strom schwimmt. Nur zwei werden nicht hinübergelangen: derjenige, der sich nicht die Kraft zutraut, und der andere,
Weitere Kostenlose Bücher