Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
bevorstehe; daher war er besorgt, noch vor dem Ausbruche derselben sein so lang und sorglich gepflegtes Schäfchen ins trockene zu bringen. Und er hatte recht. Um diese Zeit war meine Mutter durch die verspätete Mitteilung eines Bekannten aufmerksam gemacht worden; sie erfuhr endlich mein bisheriges Treiben außer dem Hause, woran hauptsächlich die übrigen Kumpane schuld sein mochten, die sich schon früher von mir gewendet hatten, als meine Niedergeschlagenheit begonnen.
Eines Tages, als ich am Fenster stand und für meine Blicke auf den besonnten Dächern, im Gebirge und am Himmel stille Ruhepunkte und die vorwurfsvolle Stube hinter mir zu vergessen suchte, rief mich die Mutter mit ungewohnter Stimme beim Namen; ich wandte mich um, da stand sie neben dem Tische und auf demselben das geöffnete Kästchen, auf dessen Boden zwei oder drei Silberstücke lagen.
Sie richtete einen strengen und bekümmerten Blick auf mich und sagte dann: »Schau einmal in dies Kästchen!« Ich tat es mit einem halben Blicke, der mich seit langer Zeit zum ersten Male wieder den wohlbekannten innern Raum der geplünderten Lade sehen ließ. Er gähnte mir vorwurfsvoll entgegen.
»Es ist also wahr«, fuhr die Mutter fort, »was ich habe hören müssen und was sich nun bestätigt, daß sich mein guter und sorgloser Glaube, ein braves und gutartiges Kind zu besitzen, so grausam getäuscht sieht?« Ich stand sprachlos da und sah in eine Ecke; das Gefühl des Unglückes und der Vernichtung kreiste in meinem Innern so stark und gewaltig, als es nur immer im langen und vielfältigen Menschenleben vorkommen kann; aber durch die dunkle Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Versöhnung und Befreiung. Der offene Blick meiner Mutter auf meine unverhüllte Lage fing an, den Alp zu bannen, der mich bisher gedrückt hatte; ihr strenges Auge war mir wohltätig und löste meine Qual, und ich fühlte in diesem Augenblicke eine unsägliche Liebe zu ihr, welche meine Zerknirschung durchstrahlte und fast in einen glückseligen Sieg verwandelte, während meine Mutter tief in ihrem Kummer und in ihrer Strenge beharrte. Denn die Art meines Vergehens hatte ihre empfindlichste Seite, sozusagen ihren Lebensnerv getroffen einesteils das kindliche blinde Vertrauen ihrer religiösen Rechtlichkeit, andernteils ihre ebenso religiöse Sparsamkeit und unwandelbare Lebensfrage. Sie hatte keine Freude beim Anblick des Geldes; nie übersah sie unnötigerweise ihre Barschaft; aber jedes Guldenstück war ihr beinahe ein heiliges Symbolum des Schicksals, wenn sie es in die Hand nahm, um es gegen Lebensbedürfnisse auszutauschen. Deshalb war sie nun weit schwerer mit Sorge erfüllt, als wenn ich irgend etwas anderes begangen hätte. Wie um sich gewaltsam vom Gegenteile zu überzeugen, hielt sie mir alles deutlich und gemessen vor und fragte dann wiederholt: »Ist es denn wirklich wahr? Gestehe!« Worauf ich ein kurzes Ja hervorbrachte und mich meinen Tränen überließ, ohne indessen viel Geräusch zu machen; denn ich war nun völlig befreit und fast vergnügt.
Sie ging tiefbewegt auf und nieder und sprach: »So weiß ich nun nicht, was werden soll, wenn du dich nicht fest und für immer bessern willst!« Damit legte sie das Kästchen wieder in ihren Schreibtisch und ließ den Schlüssel desselben an dem gewohnten Ort.
»Sieh«, sagte sie, »ich weiß nicht, ob du, wenn du deine paar Geldstücke noch verbraucht hättest, alsdann auch nach meinem Gelde, welches ich so sparen muß, gegriffen haben würdest; es wäre nicht unmöglich gewesen; aber mir ist es unmöglich, dasselbe vor dir zu verschließen. Ich lasse daher den Schlüssel stecken wie bisher und muß es darauf ankommen lassen, ob du freiwillig dich zum Bessern wendest; denn sonst würde doch alles nichts helfen, und es wäre gleichgültig, ob wir beide ein bißchen früher oder später unglücklich würden!«
Es begannen gerade acht Tage Ferien; ich blieb von selbst im Hause und suchte alle Winkel auf, in denen ich den Frieden und die Ruhe der früheren Tage wiederfand. Ich war gründlich still und traurig, zumal die Mutter ihren Ernst beibehielt, ab-und zuging, ohne vertraulich mit mir zu sprechen. Am traurigsten war das Essen, wenn wir an unserm kleinen Eßtischen saßen und ich nichts zu sagen wagte oder wünschte, weil ich das Bedürfnis dieser Trauer selbst fühlte und mir sogar darin gefiel, während meine Mutter in tiefen Gedanken saß und manchmal einen Seufzer unterdrückte.
Fünfzehntes
Weitere Kostenlose Bücher