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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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ist.«
    »Gut. Hier sind Ihre Hausaufgaben. Jeden Tag, dreimal täglich, drehen Sie sich zu Hause zwei Minuten lang auf einem Stuhl.« Er reicht ihr ein Blatt Papier mit einer Tabelle. »In dieser Tabelle dokumentieren Sie Ihre Gefühle, wie sehr Ihre Eindrücke denen während der Panik ähneln und wie groß Ihre Angst ist. Wir wollen Zweien und Dreien erreichen, aber wir werden sehen, welche Fortschritte Sie machen.«
    Sie nimmt das Blatt, faltet es zusammen und steckt es in ihre Handtasche.
    »Das wäre es für heute«, sagt er und begleitet sie hinaus.
    Sie erscheint nicht zum nächsten Termin. Sie ruft nicht an, um abzusagen. Niemand meldet sich bei ihr zu Hause oder auf ihrem Mobiltelefon. Ihre Nummer bei der Arbeit hat sie ihm nicht gegeben. Er denkt eine Weile darüber nach, was ihr Verschwinden bedeutet. Widerstand vielleicht, würde der launische Wiener sagen, oder vielleicht schlicht Vergesslichkeit, da sie im Laufe ihres Tages sehr beschäftigt und abgelenkt ist;
oder vielleicht etwas anderes, ein Unfall, Gott behüte, oder ein Notfall, der dringender Aufmerksamkeit bedarf; oder vielleicht ist diese wöchentliche Behandlungsstunde immer noch ein kleiner und unbedeutender Teil ihrer Alltagsroutine. Wie auch immer, er sollte sich nicht mit Hypothesen herumschlagen. Falls sie zurückkommt, wird er sie fragen. Und wenn nicht, wird er sie vergessen. Er ruft an und hinterlässt eine kurze Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter: »Hallo, wir waren um vier verabredet. Sie sind nicht gekommen. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung. Bitte rufen Sie an, falls Sie einen neuen Termin vereinbaren möchten. Passen Sie auf sich auf, Wiedersehen.«

6
    E inführung in die Prinzipien der Therapie, so heißt der Kurs, den er am örtlichen College gibt. Der Abendkurs trifft sich zweimal pro Woche in dem angemessen schmucklosen, kubusförmigen Wissenschaftsgebäude. Im Chemiesaal, wo Wasserhähne und Becken in die aufgereihten Tische eingelassen sind, fläzen sich elf lethargische Studenten auf ihren Stühlen. Der Psychologe betritt bedächtigen Schrittes den Raum. »Wie geht es uns heute Abend?« Er wirft eine Frage in den Raum. Die Klasse wird ihm zuliebe nicht munterer. Mit geübtem Blick erkennt er in der spärlichen Gruppe die übliche Mischung von Studenten, die um diese Uhrzeit, an diesem Ort einen solchen Kurs besucht: der ernsthafte zukünftige Therapeut, die akademischen Bummelanten, deren Examen langsam näher rückt und die die verlorene Zeit wiedergutmachen wollen, die verwirrten Stillen. Die erste Reihe ist wie immer leer, bis auf einen Stuhl unmittelbar vor ihm, auf dem eine verdrießlich dreinblickende junge Frau mit glänzender Stirn Platz genommen hat. Hinter ihr, in der zweiten Reihe, sitzt ein klapperdürres, rotwangiges Mädchen mit pinkfarbenen Haaren. Ein paar Reihen dahinter zwei junge Frauen mit breitem, höflichem Lächeln und blendend weißen Zähnen. In der dritten Reihe sitzt ein blasser Student in einem weißen Hemd mit zugeknöpftem Kragen und blauer Krawatte, der damit beschäftigt ist, das Einwickelpapier von einem üppig belegten Brötchen zu schälen; in der Ecke unterhalten sich zwei Studenten miteinander. Hinten
an der Wand schnuppert ein in sich zusammengesackter, kräftig gebauter junger Mann mit Baseballmütze an seiner Thermoskanne mit Kaffee.
    Der Psychologe tritt an die Tafel, wirft einen kurzen, prüfenden Blick auf die Reihen von Gleichungen, die noch vom morgendlichen Chemiekurs für Fortgeschrittene dort stehen, murmelt: »Haben wir das verstanden?«, und wischt sie energisch ab. Dann wendet er sich ihnen wieder zu und sieht sie an. Es ist die dritte Semesterwoche, und noch immer kennt er nicht ihre Namen und Gesichter. Um die Wahrheit zu sagen, wirken alle jungen Menschen auf ihn fern und einander ähnlich, wie Angehörige eines merkwürdigen, exotischen Stamms. Ihre Namen und Gesichter purzeln in seinem Gehirn durcheinander. Im Laufe der Jahre hat er gelernt, einen Namen von seiner Liste abzulesen und langsam den Kopf zu heben, das sich aufhellende Gesicht desjenigen Studenten auszumachen, der aufgerufen wurde, und sich ihm dann nonchalant zuzuwenden. Bei neuen Studenten funktioniert dieser Trick gut, doch diejenigen, die seine Kurse mehr als einmal besuchen, kennen seine Methode und grinsen leise in sich hinein.
    Er macht einen Schritt nach vorn und steht vor ihnen. Ein subtiles Vergnügen durchrieselt ihn. Er hat sie in der Hand wie weichen Ton. Doch sein Vergnügen rührt nicht

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