Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
daher, sondern weil er weiß, seine Hände sind gut. Im Laufe der letzten Jahre hat er sich allmählich von den Lasten der Jugend befreit. Er buhlt nicht mehr um ihre Gunst; er sucht nicht mehr ihre Bewunderung und Akzeptanz. Er muss nicht länger beweisen, dass er den Stoff beherrscht. Der Stoff ist zu einem Teil von ihm geworden. Er ist der Stoff. Er fürchtet sie nicht, und er braucht sie nicht und ist deshalb entspannt, und dieses Wohlbefinden strahlt er aus, es schwebt durch den Raum wie
eine unsichtbare Wolke, und sie atmen es ein und entspannen sich ebenfalls.
»Ein guter Psychologe befasst sich mit Lebensgeschichten und Identität«, verkündet er. »Und jemand, der sich mit Lebensgeschichten und Identität befasst, befasst sich mit Erinnerungen. Alle unsere Erlebnisse und Erfahrungen, alle unsere Einsichten und Geschichten, all das ist in unserem Verständnis des Ichs gebunden und zusammengefasst – alles hängt von der Erinnerung ab. Deshalb ist es wichtig, etwas über den Prozess der Erinnerung zu wissen. Die meisten Menschen wissen nichts darüber, und wenn sie eine Vorstellung davon haben, dann ist diese gewöhnlich falsch. Ihr persönliches Verständnis von Erinnerung, können wir daher annehmen, ist fehlerhaft, und unsere Aufgabe ist es, dies zu korrigieren.« Er wedelt mit der Kreide vor ihnen durch die Luft. »Ich werde jetzt eine Zahl an die Tafel schreiben«, sagt er. »Ich werde sie ein paar Sekunden stehen lassen und sie dann wieder auswischen. Jeder von Ihnen, der es schafft, diese Zahl zu vergessen, bekommt automatisch eine Eins für diesen Kurs.« Sie werden mit spürbarem Misstrauen munter. Er schreibt und löscht sofort wieder aus:
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Dann wendet er sich an sie und sagt: »Vergesst, vergesst, vergesst mit aller Kraft.«
Sie lachen, und der Lässige aus der letzten Reihe sagt: »Was vergessen?«
»Die Erinnerung. Dabei handelt es sich um eine heikle Angelegenheit«, sagt der Psychologe und geht vor ihnen auf und ab, »doch ehe wir dies demonstrieren, sollten wir uns zunächst klarmachen, dass erinnern ein Verb ist, kein Substantiv. Erinnerung ist ein Prozess, kein Ding. Eine Reise, kein Ziel. Der
eine hat kein gutes Gedächtnis. Der andere mag gut darin sein, sich zu erinnern.«
Der Psychologe hält inne, steht vor ihnen und sieht sie an.
»Mit einigen Tricks der Erinnerung sind Sie zweifellos vertraut. Einerseits gibt es Dinge, die Sie gerne vergessen möchten, aber nicht vergessen können. Nehmen Sie zum Beispiel den Namen einer nutzlosen Berühmtheit – im Gegensatz zu einer nützlichen Berühmtheit natürlich –, den Sie vergessen möchten; möglicherweise, um in Ihrem Gehirn Platz zu schaffen für nützlichere Informationen, obwohl auch dieser Gedanke von einem Irrtum ausgeht, auf den wir später zurückkommen werden. Wie dem auch sei, für unsere Zwecke jetzt …« Er blickt den robusten, schläfrigen Typen mit der Baseballmütze in der letzten Reihe an, der mit seinem Stuhl an der Wand lehnt. »Steve, bitte nennen Sie uns ein Beispiel für so jemanden.«
Der schläfrige Typ kippt nach vorn und landet mit den Vorderbeinen seines Stuhls sachte wieder auf dem Fußboden, blickt um sich und sagt: »Ich heiße Eric.«
»Eric, natürlich. Nennen Sie uns ein Beispiel, bitte.«
»Ein Beispiel wofür?«
»Für eine nutzlose Berühmtheit.«
»Tja, hmm, der Papst?«
»Der Papst, gut. Nehmen wir einmal an, Sie beschließen, den Namen des Papstes aus ihrem Gehirn zu tilgen, um Platz zu schaffen für die Prinzipien psychoanalytischer Theorie, mit denen wir uns vergangene Woche beschäftigt haben und über die Sie in der nächsten Woche geprüft werden; werden Sie das können?«
»Was können?«
»Den Papst aus Ihrer Erinnerung löschen.«
Der kräftige Junge zuckt die Schultern: »Nein?«
»Richtig. Sie werden die Erinnerung an den Papst mit ins Grab nehmen und eventuell sogar darüber hinaus, wenn wir den Papst beim Wort nehmen wollen. Sie, Eric, werden die Erinnerung an den Papst für immer mit sich herumtragen. Und darüber hinaus ist die ganze Idee, wonach Ihr Gedächtnis einer Bibliothek gleicht, in der auf langen Regalen mehr und mehr Bücher gestapelt werden, bis kein Platz mehr ist – auch diese Vorstellung ist falsch; unter Universitätsstudenten beliebt, gewiss, aber falsch nichtsdestotrotz. Ihre Erinnerung ist keine Bibliothek. Tatsächlich wird es immer leichter, sich mehr zu merken, je mehr man weiß. Doch zu all dem kommen wir später. Nun lassen Sie uns
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