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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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weitergehen. Und nur ein großer Dichter kann einen solchen Satz schreiben, ohne sich restlos zu blamieren. Doch kehren wir zurück zu unserem Thema.« Er richtet sich auf. »Wie lautete nochmals unser Thema?«
    »Sie fragten nach einer schmerzlichen Erinnerung«, sagt Jennifer.
    Er nickt. »Ja, aber versuchen Sie, sich an etwas aus der ferneren Vergangenheit zu erinnern.« Er sieht sich im Raum um. Sein Blick begegnet dem des Jungen mit der Krawatte in der dritten Reihe. Er macht ihm ein Zeichen.
    »Ich, ich habe so viele schmerzhafte Erinnerungen – wie es scheint, ist die ganze Vergangenheit eine einzige schmerzhafte Erinnerung«, sagt der Junge mit der Krawatte ein wenig zögernd. »Sehen Sie, bis vor Kurzem war ich verloren und völlig verstört. Aber jetzt ist alles anders; alles hat sich verändert, seit ich meinen Weg gefunden habe, seit ich mein Leben Ihm anvertraut habe …«
    »Nun, es sieht so aus, als hätten Sie einen Weg gefunden, der für Sie richtig ist«, sagt der Psychologe.
    »Dieser Weg steht jedem offen«, sagt der Junge mit der Krawatte, und seine Stimme gewinnt an Selbstvertrauen, »und er ist richtig für jedermann.«
    »Vielleicht«, sagt der Psychologe, »doch das muss jeder für sich selbst entscheiden, so wie Sie, aber ich bin immer noch auf der Suche nach einer Erinnerung …«
    »Ich hatte einmal eine Katze.« Eric wacht unvermittelt auf. »Sie hieß Miau und fiel in einen Brunnen und starb. Ich war sechs Jahre alt. Ich habe damals geweint.«
    Der Psychologe nickt. »Ein gutes Beispiel. Sie würden Miaus
bitteres Ende am liebsten vergessen, aber es gelingt Ihnen nicht. Die Katze, und auch der Papst natürlich, werden Ihnen bis ins Grab in Erinnerung bleiben.«
    »Sie wissen wirklich, wie man Trost und Zuversicht spendet, Professor.«
    »Ich beschreibe den Erinnerungsprozess.«
    Ein schwaches Lächeln flackert über Erics Gesicht, und wie es scheint, bewertet er seinen Entschluss aufzuwachen als eher negativ.
    »Hier ist die Summe meines Wissens über Katzen«, sagt der Psychologe, und die Klasse belohnt ihn mit einem nachsichtigen Kichern: »Wer auch immer Sie sind, Ihre Katze lebt stets besser als Sie.«
    Jennifer beugt sich vor, um etwas in ihr Notizbuch zu schreiben.
    »Meine Katze ist tot«, murmelt Eric düster vor sich hin.
    »Sie mögen glauben«, sagt der Psychologe und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, »dass die Erinnerung nichts anderes ist als eine Videoaufnahme, die die Tage Ihres Lebens aufzeichnet, ihren Verlauf, und sie im Archiv Ihres Gehirns verwahrt. Dies ist eine verbreitete Annahme und eine intuitive Metapher, der es nicht an Eleganz mangelt: Das Gehirn ist eine Bibliothek, in der die Geschichten unserer Zeit gebunden und aufbewahrt werden; eine schöne Metapher, doch leider irreführend und falsch. Die Erinnerung ist kein Depot, sondern eine Geschichte, die wir uns im Nachhinein erzählen. Als solche ist sie aus dem Material zusammengesetzt, aus dem Geschichten entstehen – Ausschmückung und Verfälschung, Verwirrung und Dringlichkeit, Enthüllung und Unklarheit.« Er tritt mit einstudierter Theatralik ein paar Schritte vor.
    »Nehmen Sie bitte ein Blatt Papier, wenn Sie so freundlich
sein wollen, und notieren Sie darauf meine ganze bisherige Vorlesung, verbatim, Wort für Wort.«
    Jennifer beugt sich vor und beginnt fieberhaft zu schreiben. Eric zögert, kratzt sich den dicken Nacken, rückt seine Mütze zurecht und starrt mit seinem Pudelblick ins Leere.
    »Ich will Ihnen diese Mühe ersparen«, sagt der Psychologe. »Keiner von Ihnen wird diesen Test bestehen, denn Ihre Erinnerung zerstückelt und verdaut das vorhandene Rohmaterial, in diesem Fall meine Worte. Sie schluckt sie nicht ganz. Sie können sich erinnern, worüber ich gesprochen habe. Doch Sie können sich nicht daran erinnern, was ich gesagt habe. Worüber habe ich gesprochen, Eric?«
    »Ah … über den Papst und meine Katze Miau und über die Dinge, die wir vergessen möchten, an die wir uns aber nicht erinnern können.«

7
    D ie Vier-Uhr-Klientin sitzt auf dem blauen Sofa. Sie hält eine große, eckige Handtasche umklammert, gelb mit schwarzen Punkten, dann hebt sie sie hoch, dreht sie um und schüttet den Inhalt auf das Sitzpolster. Sie sucht ungeduldig etwas in dem Haufen, zieht eine Zigarette heraus, rollt sie zwischen ihren Fingern hin und her und steckt sie dann wieder in die Tasche. Sie beugt sich vor, schiebt den aufgehäuften Inhalt mit dem angewinkelten Arm zusammen, fegt

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