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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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ihn in die Tasche zurück und bemüht sich, die Tasche zu schließen. Sie stellt die Handtasche auf ihre Knie und dann neben sich auf das Sofa und dann auf den Fußboden. Ihr Blick fängt eine Sekunde lang den seinen auf, und ihre Miene erscheint ihm plötzlich düster.
    »Wir hatten letzte Woche einen Termin«, sagt der Psychologe. »Sie sind nicht gekommen.«
    »Ich habe es vergessen.«
    »Sie haben es vergessen.«
    »Ja.«
    »Sind Sie im Allgemeinen vergesslich?«
    »Nein.«
    »Dann …«
    »Ich hab’s vergessen. Es tut mir leid.«
    Der Psychologe sieht sie an und nickt. Eine solche Vergesslichkeit bedarf der Aufmerksamkeit, denkt er, denn sie ist aller Wahrscheinlichkeit nach Ausdruck einer gewissen Ambivalenz bezüglich des therapeutisches Prozesses. Andererseits ist
eine Zigarre manchmal einfach eine Zigarre, so der berühmte Ausspruch des launischen Wieners, und selbst eine Angelegenheit, die der Aufmerksamkeit bedarf, ist nicht unbedingt eine dringende Angelegenheit. Er wendet den Gedanken hin und her und beschließt dann, wieder zum gewohnten Ablauf zurückzukehren.
    »Bei unserer letzten Sitzung habe ich Ihnen Hausaufgaben mitgegeben …«
    »Ich habe keine Zeit zum Üben«, platzt sie ungeduldig heraus.
    Er zögert. Vielleicht stellt sie ihn auf die Probe, lotet die Grenzen seines Mitgefühls aus. Vielleicht ist sie mit Ablehnung vertraut und beeilt sich, im Voraus zurückzuweisen, ehe sie selbst zurückgewiesen wird.
    »Sie haben keine Zeit, sich selbst beim Heilen zu helfen?«
    »Doch, schon, aber nicht für Übungen.«
    Er nickt. Widerstand, das war zu erwarten gewesen. Und an dieser Stelle drängt es ihn plötzlich: Brich ab und lass sie laufen, denkt er. Schick sie nach Hause. Wer nicht arbeiten will, sollte auch nicht zur Arbeit erscheinen. Wir könnten beide kostbare Zeit sparen – als ob Zeit nicht immer kostbar wäre? Kommen Sie bitte wieder, wenn Ihr Bedürfnis zu kämpfen und sich zu stellen gereift ist. Aber er sagt: »Nennen Sie mir drei Dinge, die Sie letzte Woche für sich getan haben. Nicht für Geld oder für jemand anderen, sondern für sich selbst.«
    Sie überlegt schweigend.
    »Ich fasse mich an«, sagt sie und hebt den Blick, um ihn anzusehen.
    Eine Provokation, denkt er, das war zu erwarten. Sie eröffnet mit ihrem vertrautesten Zug. Sein Blick ruht auf ihrem Gesicht, geschäftsmäßig und beinahe ausdruckslos: »Sie masturbieren.«
»Ich fasse mich an.«
    »Sie masturbieren. Es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen.«
    Sie nickt. Ihr Blick senkt sich. Sie reibt ihre dünnen Finger aneinander.
    »Das ist eine Sache. Ich habe Sie um drei gebeten.«
    Schweigen.
    »Ich habe mir eine neue Handtasche gekauft«, sagt sie schließlich und deutet darauf. »Und die hier.« Sie nimmt die Handtasche auf ihren Schoß, klappt sie auf und nimmt eine goldgefasste Sonnenbrille mit runden Gläsern heraus. »Schön?«
    »Das sind zwei«, sagt der Psychologe.
    Sie seufzt. »Gestern Nachmittag bin ich vor die Stadt gefahren, einfach so, zu einer Spazierfahrt.«
    »Ja.«
    »Ich fahre gerne aus der Stadt hinaus. Einfach um über Land zu kutschieren. Wenn das Wetter schön ist, öffne ich das Verdeck. Dann kann man alles um sich herum sehen. Das entspannt mich, der Wind, die Farben … Am liebsten mag ich Tiere.«
    »Tiere.«
    »Pferde. Schafe. Aber Kühe mag ich am liebsten.«
    »Kühe.«
    Sie nickt. Die Hände im Schoß, den Blick gesenkt.
    »Erzählen Sie mir mehr.«
    »Kühe habe ich schon immer gemocht. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, bevor wir in die Stadt gezogen sind. Ich habe sie immer gemolken. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass jede Kuh ihr eigenes Muh hat? Ein persönliches Muh. Das lässt mich … Glauben Sie, ich bin verrückt?«
    »Ich glaube, Sie sind eine genaue, empfindsame Beobachterin. «

    »Die Form einer Kuh gefällt mir: dünne Beine und ein dicker Körper, sehr modern, klar. Wie diese Handtasche, nur ohne das Gelb. Die meisten Leute sehen so etwas nicht, aber ich habe einen Sinn für Mode. Ich bin Ästhetin. Und Kühe stehen gerne. Sie bewegen sich kaum. Man sieht selten eine Kuh ausrasten, die Kontrolle verlieren. Sie sind friedlich. Sie stehen auf der Weide und fressen, und hin und wieder dieses Muh … Ich denke viel darüber nach. In Indien, wissen Sie, sind Kühe heilig. Sie geben Milch, sie sind Muttertiere, das ist Leben. Und im Innern dieses eckigen Körpers sind viele Mägen, ein kompliziertes System. Mein Dad hat mir das erzählt. Vier Mägen oder

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