Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
beugt sich vor, um sich Notizen zu machen. Auf
Erics Gesicht in der letzten Reihe zeichnet sich ein schwaches Grinsen ab, doch es ist unklar, ob als Reaktion auf die Ereignisse um ihn herum oder auf seine eigenen Gedanken.
»Letzte Woche haben wir über Erinnerung gesprochen«, sagt der Psychologe. »Wir haben erfahren, dass es sich bei Erinnerungen um rekonstruierte Geschichten handelt, die sich auf Ereignisse in der Vergangenheit beziehen, und nicht um eine Fotografie oder eine Kopie dieser Ereignisse. Heute werden wir uns die schematische Natur der Erinnerung ansehen. Ich vermute, Sie alle haben schon die Redensart gehört: Man glaubt, was man sieht. Und es trifft zu. Doch auch das Gegenteil trifft zu: Man sieht, was man glaubt. Unser Gehirn verarbeitet Ereignisse nicht nur mechanisch, auf der Basis innerer Kreisläufe und Vernetzungen, sondern auch subjektiv. Die Wahrnehmung ist ein Tanz, der die äußere Beschaffenheit der Dinge mit unseren Wahrnehmungsmechanismen und der persönlichen Lebenserfahrung eines jeden Menschen verknüpft. Erinnerungsprozesse, ihre Beschaffenheit und ihre Grenzen und unsere Erwartungen und Gewohnheiten – alles zusammen bildet das, woran wir uns erinnern.«
Er nippt an seinem erkaltenden Kaffee und tritt an den Computer. Eine Overheadprojektion wird hinter ihm auf dem Bildschirm sichtbar:
Er deutet auf die Projektion, wartet einige Sekunden ab und sagt: »Sie alle sehen etwas. Die meisten von Ihnen lesen wahrscheinlich Ich liebe Paris im Frühling. Aber schauen Sie noch einmal genauer hin.«
Ein unterdrücktes Gemurmel der Erkenntnis geht durch den Raum. Eric beugt sich mit offenem Mund vor und bewegt den Kopf von einer Seite auf die andere. Sein unbestimmter Gesichtsausdruck verwandelt sich in eine stumme Bitte.
»Konzentrieren Sie sich«, sagt der Psychologe. »Lesen Sie jedes Wort einzeln.«
Das Gesicht des Jungen legt sich in lauter Falten und hellt sich schließlich auf.
»Unser Gehirn nimmt Abkürzungen«, sagt der Psychologe. »Aufgrund früheren Wissens und früherer Gewohnheit haben Sie einen grammatikalisch korrekten Satz erwartet und deshalb den Ihnen tatsächlich vorliegenden Satz, den tatsächlichen sensorischen Input, nur überflogen. Dasselbe tun wir, wenn wir uns erinnern. Ich lese Ihnen jetzt eine Liste mit Wörtern vor. Versuchen Sie, sie sich in dieser Reihenfolge zu merken, ohne mitzuschreiben.«
Jennifer seufzt frustriert auf und setzt sich gerade hin.
Er liest langsam und bedächtig:
»Und jetzt«, sagt er zu ihnen, »werde ich Ihnen, um Sie für eine Weile abzulenken, eine Geschichte erzählen, die ich vor nicht allzu langer Zeit in der Zeitung gelesen habe. Ein holländischer
Fernsehsender beschloss, einen im Guinness Buch der Rekorde eingetragenen Rekord zu brechen und vier Millionen Dominosteine in einer Reihe aufzustellen. In einem Vorort arbeiteten über hundert Menschen in einem großen Flugzeughangar wochenlang an diesem Projekt. Eines Nachts flog ein Vogel, der die Orientierung verloren hatte, durch ein versehentlich offen gelassenes Fenster und brachte in seiner Aufregung und Angst zwanzigtausend Dominosteine zu Fall. Glücklicherweise hatten die, die daran gearbeitet hatten, hier und da in der Dominokette Lücken gelassen, und deshalb fielen nicht alle Steine. Der verängstigte Vogel kauerte in einer Ecke des Hangars, und man rief einen ausgewiesenen Vogeljäger, der ihn erschoss. Am darauffolgenden Tag stellte man fest, dass der Vogel einer seltenen, bedrohten Spezies angehörte. Tierschutzorganisationen meldeten sich mit der Forderung, der Jäger müsse vor Gericht gestellt werden, da bedrohte Arten nach holländischem Gesetz nur dann getötet werden dürfen, wenn sie eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder der Ernte darstellen. Der Jäger erhielt Morddrohungen, und ein konkurrierender Fernsehsender lobte für jeden einen Preis aus, der in den Hangar einbrechen und die Arbeit des Vogels vollenden würde, sämtliche Dominosteine zu Fall zu bringen.« Er hält inne und blickt in die Runde.
»Und was ist dann passiert?«, fragt Jennifer.
»Das ist nicht die eigentliche Frage«, sagt er. »Die eigentliche Frage lautet: Wovon handelt diese Geschichte? Und darauf werden wir später zurückkommen. Doch jetzt wollen wir uns wieder der Frage der Erinnerung zuwenden. Ich werde jetzt drei Wörter an die Tafel schreiben. Per Handzeichen werden wir entscheiden, ob diese Wörter auf der Liste standen, die ich Ihnen gerade vorgelesen
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