Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
dort sammelt er sich.«
»Wie sind wir von deinem Klemmbrett auf das Grab eines toten Matrosen gekommen?«, fragt sie lachend.
»Mein Klemmbrett ist ein Symbol der Distanz, es verkörpert sie, und der Klient ist frei, über die Nähe zu bestimmen. Außerdem
weißt du ja, dass wir unserem Gedächtnis allein nicht trauen können. Wir müssen die Dinge dokumentieren. Ich für meinen Teil habe eine Erinnerung an dich nachts auf einem Feld, auf der warmen Motorhaube eines Autos, an den süßen Geschmack deiner Brustwarzen. Ist das so gewesen oder nicht?«
»Auf eine derartige Erinnerung solltest du dich lieber nicht verlassen«, sagt sie lachend.
»Ich verlasse mich nicht darauf, ich zähle darauf.«
»In Ordnung, jetzt konzentrier dich mal eine Sekunde. Nächsten Monat bin ich auf einer Konferenz in Chicago. Schacter hält einen Vortrag und spricht über das Gedächtnis. Ist das für dich nicht interessant?«
»Chicago. Ich liebe diese Stadt. Kommst du mit deiner Familie? «
»Ich werde allein dort sein.«
»Schacter fasziniert mich. Ich bin ein großer Fan von Schacter. «
»Geh nach Hause.«
»Wiedersehen.«
Er legt den Hörer auf, verschränkt die Finger im Nacken, streckt sich in seinem Sessel und schließt die Augen. Leise, fröhliche Musik steigt in ihm auf, rhythmisch, trällernd. Eine Tür hat sich aufgetan. Er wird sie wiedersehen. Bald. Ihr Gesicht, von Angesicht zu Angesicht. Und diese Worte tänzeln lebhaft in seinem Kopf herum: ihr Gesicht, von Angesicht zu Angesicht. Ihr Gesicht.
8
D er Psychologe verlässt sein Büro auf dem Campus und schlendert hinüber zum Wissenschaftsgebäude. Die kühle Abendluft fährt ihm mal schneidend ins Gesicht, mal streichelt sie darüber. Er hält die Hände vor den Mund und bläst hinein, um sie aufzuwärmen, aber vergebens. Ein Frösteln breitet sich in seinem Körper aus. Er biegt unvermittelt ab und betritt das Bibliotheksgebäude. In der Lobby hat vor Kurzem eine neue Cafeteria eröffnet, gestiftet von einem wohlhabenden Bürger der Stadt, einem ehemaligen Studenten, der sein Studium der Literatur und Geschichte schon vor einer Ewigkeit abgeschlossen und seither im Gebrauchtwagengeschäft ein Vermögen verdient hat. Der Psychologe tritt an die Theke und wirft einen Blick auf die Karte, die in die erdfarbene Wand eingeritzt ist.
»Einen Kaffee«, sagt er, »schwarz.«
Das Mädchen hinter der Theke sieht ihn aus schmalen Augen an und deutet schließlich auf einen Tisch weiter hinten. Dort nimmt er die schwere Thermoskanne, gießt sich einen Becher voll ein, bezahlt und geht. Er umfasst den Becher mit beiden Händen, und die Wärme, die in seine Finger dringt, fühlt sich an wie ein kleines Gnadenwunder. Eine merkwürdig ausgelassene Stimmung ergreift ihn.
Als er das Klassenzimmer betritt, bemerkt er, wie Jennifer auf die Uhr sieht und die Stirn runzelt.
»Komme ich zu spät?«, fragt er.
Sie nickt.
»Ich komme nicht zu spät«, sagt er. »Der Professor, wie wir wissen, kommt nie zu spät. Der Professor wurde aufgehalten. Studenten kommen zu spät.«
Sie zieht eine Grimasse. Hinter ihr zwei Paar strahlend lächelnder weißer Zahnreihen.
Er steht vor ihnen, nippt behutsam an seinem Becher, dessen Wärme nachlässt, und fragt: »Wie geht es uns heute Abend?«
Ein müdes Stöhnen flackert von den einzelnen Stühlen auf und verebbt. Er wendet sich an Jennifer.
»Jennifer wird uns jetzt erzählen, was in ihrem Leben neu und anders ist. Was haben Sie am Wochenende getan, Jennifer, um Ihrer Seele Gutes zu tun und Ihre Stimmung zu heben?«
Sie betrachtet ihn überrascht und misstrauisch, als untersuchte sie ein ihr unbekanntes Nahrungsmittel. »Ich habe für die Prüfung gelernt«, sagt sie schließlich, »ich habe zwei Kapitel im Voraus gelesen.«
Sie erscheint ihm plötzlich verhärmt und welk, und er stellt fest, wie sein Mitgefühl sich rührt. Er geht auf sie zu und beugt sich vorsichtig zu ihr hin: »Für Ihre Seele, für Ihr Herz.« Er schlägt sich mit der Faust auf die Brust: »Zum Vergnügen, einfach, um Spaß zu haben. Was haben Sie dieses Wochenende getan, um das Leben zu genießen?«
Sie sackt auf ihrem Stuhl in sich zusammen: »Ich lese gerne im Voraus. Ich mag es, mich vorzubereiten«, sagt sie.
Er nickt bestätigend, zieht sich langsam zurück und hebt den Blick zum Fenster.
»Ein unerforschtes Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden, sagte Sokrates. Ein ungelebtes Leben ist es nicht wert, erforscht zu werden, sage ich.«
Jennifer
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