Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
fiel. Sie war bleich und schmächtig wie ein Flüchtling. Ein Gesicht in voller Kriegsbemalung – schwarze Wimperntusche, roter Lippenstift. Sie stand auf, um ihn zu begrüßen, schwankte auf hohen, schmalen Absätzen auf ihn zu. Sie sah ihm nicht in die Augen, sondern hängte ihm ihren Blick um den Hals wie eine kindliche Umarmung. Er stellte sich vor und führte sie ins Sprechzimmer. Sie setzte sich auf das Sofa, wühlte geräuschvoll in ihrer Handtasche, nahm eine Zigarette heraus und fingerte daran herum. Ein scharfer Parfümgeruch hing in der Luft. Er nahm vor ihr Platz und blätterte die Fragebogen durch; ihre Handschrift, krakelig und stockend, verriet Trauer und Vernachlässigung.
»Was führt Sie heute hierher?« So beginnt er stets seine erste
Therapiestunde. Anhänger des launischen Wieners behaupten, dass man still dasitzen und dem Klienten die Führung überlassen solle. Doch darin irren sie sich, sind zumindest übereifrig, an dieser Stelle ebenso wie in einer Reihe anderer Punkte. In seinem Abendkurs lehrt er Einführung in die Prinzipien der Therapie; er hadert mit seinen Studenten, vielleicht auch mit dem therapeutischen Unterfangen an sich.
Sie ließ sich Zeit: »Jemand hat etwas in meinen Drink getan.«
»Jemand hat Drogen in Ihren Drink getan?«
Sie nickte. »Ich habe mich im Club mit einem Freund auf einen Drink hingesetzt. Dann bin ich aufgestanden, um zu tanzen. Plötzlich drehte sich alles in meinem Kopf. Mir war schlecht. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich fing an zu schwitzen. Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Ich bekam keine Luft. Ich dachte, ich sterbe. Ich bin nach draußen gerannt. Eines der Mädchen, eine Freundin von mir, hat mich nach Hause gebracht. Seitdem kann ich nicht mehr tanzen.«
»Na und?«, fragte er und wies sich sofort zurecht; zu früh, um die Klientin derart zu provozieren. Es ist üblich und sinnvoll abzuwarten, eine Beziehung aufzubauen. Doch in letzter Zeit schwindet seine Geduld, und Menschen, die unter Angststörungen leiden, sind ohnehin der Überzeugung, ihnen stehe irgendein Unheil ins Haus. Genau diese Überzeugung ist natürlich ihr wahrer Fluch, der sie peinigt und ihr Leben zerstört.
Sie blinzelte: »Na und?«
Er nickte. »Jemand hat etwas in Ihren Drink getan, und Sie können im Club nicht mehr tanzen. Na und?«
»Ich muss tanzen.«
»Sie tanzen gerne in Clubs.«
»Ich muss tanzen. Um Geld zu verdienen. Ich bin Tänzerin in einem Nachtclub.«
»Stripperin.«
»Tänzerin.«
Er sah sie erneut an. Tiefschwarze Augen, weit aufgerissen, eine sommersprossige Stupsnase. Alte Aknenarben bildeten Flecken auf ihrem blassen Gesicht. Sie sah ihn an. Das ist der entscheidende Moment, dachte er. Sie testet, ob ich sie verurteile oder von oben herab behandle. Er wusste, dass er diesen Test bestehen würde. Er urteilt nicht über seine Klienten, rivalisiert nicht mit ihnen und übernimmt nicht ihre Last. Diese Position ist für seinen therapeutischen Ansatz von elementarer Bedeutung. Er ist sehr stolz darauf.
Beflissene Therapeuten, die zugewandten Gutmenschen, die vor gutem Willen und Mitgefühl triefen, machen falsche Versprechungen, und der Kontakt mit ihnen ist verletzend, wird er später in seinem Kurs sagen. Ein Therapeut, der zu Hilfe eilt, vergisst zuzuhören und kann deshalb weder verstehen noch erkennen. Der beflissene Therapeut, der entschlossen ist, Rettung anzubieten, wird in die Sache verwickelt und versucht sich selbst zu retten. Ein guter Psychologe hält Distanz und lässt sich nicht in die Ergebnisse seiner Arbeit verstricken. Die richtige Distanz erlaubt einen genauen und klaren Blick. Ein guter Psychologe überlässt die Sache mit der Nähe Familienangehörigen und geliebten Haustieren, und die Sache mit der Rettung überlässt er religiösen Bürokraten und Exzentrikern an Straßenecken.
Sich nicht verstricken zu lassen ist keine intuitive Haltung, wird er seinen Studenten sagen, und sie ist nicht einfach durchzuhalten. Sogar der launische Wiener, der so viel darüber nachdachte und davon sprach, versagte in dieser Verhaltensprüfung, in diesem ultimativen Test, denn er ließ sich von seiner Neugier und seinem Temperament eines Eroberers hinreißen.
Doch das therapeutische Unterfangen an sich läuft unserer ursprünglichen Intuition zuwider und bleibt unverständlich, wenn nicht das Fremde wertgeschätzt wird. Warum sollte jemand einem Wildfremden seine intimsten Geheimnisse ausplaudern, wenn dieser Fremdheit nicht etwas
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