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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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Portemonnaie heraus, zieht ein winziges Foto hervor und reicht es ihm. Ein blondhaariges Mädchen in einem Blümchenkleid starrt ihm ernsthaft entgegen, den Kopf ein wenig nach rechts geneigt, mit der rechten Hand schirmt es sich die Augen ab.
    »Michelle?«, fragt er.
    Sie schüttelt den Kopf: »Ich.«
    Er nickt und betrachtet das Foto. »Das ist Michelle«, sagt sie und hält ihm ein anderes Foto hin; ein anderes Mädchen, lächelnd, sommersprossig, das unter einem großen Baum steht und dasselbe Kleid anhat.
    »Hübsche Mädchen«, sagt er. »Hübsches Kleid.« Der Anflug eines Lächelns huscht über sein Gesicht.
    »Haben Sie Kinder?«, fragt sie unvermittelt.
    »Sie fragen das, weil …«
    »Kein Grund«, sagt sie.
    »Doch ein Grund«, sagt er.
    Sie zögert. Ihr Blick gleitet durch das Zimmer und landet schließlich bei ihm: »Wenn Sie Kinder haben, haben die Glück. Sie müssen so ein guter Vater sein.«

24
    A n diesem Abend geht der Psychologe auf dem Weg zum Unterricht wieder kurz in der Bibliothekscafeteria vorbei. Er gießt sich eine Tasse Kaffee ein, bezahlt und tritt hinaus in die Kälte. Sanfter Schneefall bedeckt den Asphalt mit einer frischen weißen Schicht, löscht die Spuren früherer Besucher und legt wie ein tüchtiges Zimmermädchen ein neues, sauberes Laken auf für die zukünftigen. Der Psychologe betritt das Klassenzimmer, wirft seinen triefenden Mantel auf einen Stuhl in der Ecke und wendet sich seinen Studenten zu: »Wie geht es uns heute Abend?« Er blickt sich im Raum um und stellt fest, dass Jennifers Stuhl leer ist. Die Studenten antworten mit einem schwachen Stöhnen.
    »In Ordnung«, sagt er. »Bevor wir anfangen, nehmen Sie sich zwei Minuten Zeit, wenden sich an die Person neben Ihnen und finden heraus, wie es ihr geht.« Er wedelt mit den Händen. »Fangen Sie an.« Sie wenden sich auf knarrenden Stühlen einander zu. Ein Tumult aus Gekicher und Lärm entsteht, die Atmosphäre des Zimmers lädt sich auf. Die weißzahnigen Mädchen drängen sich um den Jungen mit der Krawatte, dessen Gesicht plötzlich rot anläuft. Das pinkhaarige Mädchen, stellt der Psychologe fest, geht zu Eric hinüber, zeigt ihm etwas auf dem Display ihres Mobiltelefons, und beide fangen an zu kichern, als teilten sie ein Geheimnis.
    »Gut«, sagt der Psychologe schließlich, »Sie sind aufgewacht. Lassen Sie uns nun zur therapeutischen Begegnung zurückkehren.
Zwei grundlegende Aspekte der therapeutischen Begegnung sind der Inhalt und der Prozess. Der Inhalt ist das Was, und der Prozess ist das Wie. «
    »Was ist mit dem Warum ?«, murmelt Eric.
    » Warum ist eine schwache Frage, schwammig, auf die es keine präzise Antwort gibt. Ein guter Psychologe hält sich von der Frage des Warum fern.«
    »Warum?«, kichert Eric.
    »Sie haben verstanden«, sagt der Psychologe. »Wir können davon ausgehen, dass das Problem des Klienten entweder mit dem Inhalt oder mit dem Prozess zu tun hat. Ein Klient, der bei einer bestimmten Frau keine sexuelle Erregung empfindet, hat ein Inhaltsproblem. Ein Klient, der sich vor sexuellen Gefühlen im Allgemeinen fürchtet, hat ein Prozessproblem. Philosophisch betrachtet, darin sind wir uns einig, ist diese Unterscheidung diffus und problematisch, doch die Konzentration auf die Theorie führt zu einer Vernachlässigung der therapeutischen Arbeit. Die meisten produktiven Wissenschaftler wissen wenig über Wissenschaftstheorie. In der therapeutischen Begegnung sind die Perlen des Inhalts im Allgemeinen auf einer transparenten, aber starken Schnur des Prozesses aufgefädelt, und der Psychologe tut gut daran, nicht nur die einzelnen Perlen zu überprüfen, sondern auch die Beschaffenheit der Schnur, die sie zusammenhält.
    Nehmen wir folgenden Fall: Eine Klientin kommt zur Behandlung einer Angststörung in Ihre Praxis. Sie ist eine unverheiratete Frau in den Dreißigern. Ihren Freund betrachtet sie hauptsächlich als Freund, fühlt sich sexuell nicht zu ihm hingezogen und hat nie einen Orgasmus. Sie lebt bei ihren Eltern. Sie ist gerne Trainerin der Cheerleadergruppe an der örtlichen Highschool. Sie beschreibt narzisstische Episoden magischen
Denkens, in denen sie sich einbildet, sie könne in die Zukunft sehen und man rede in ihrer Umgebung über sie. Alle diese Symptome unterscheiden sich auf der inhaltlichen Ebene, auf der Prozessebene jedoch sind sie samt und sonders auf einer unsichtbaren Schnur aufgefädelt und drücken, wenn wir eine gewissermaßen Adler’sche Perspektive

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