Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Weg zum Abendessen; wollen Sie sich uns nicht anschließen?«, fragt der Mann.
»Ja«, sagt Nina, »warum nicht?«
Der Psychologe sieht sie an und zögert einen Moment. »Nein danke«, sagt er schließlich, »wirklich nicht, ich muss mich auf den Weg machen. Im Krankenhaus gibt es noch ein Abschlusstreffen, und danach die lange Heimfahrt. Aber es war nett, Ihnen allen zu begegnen.«
»Hier ist meine Nummer«, sagt Nina und reicht ihm eine
goldfarbene Visitenkarte. »Wenn du wieder in der Stadt bist, ruf mich an.«
»Klar«, sagt er. »Danke. Wiedersehen.«
»Wiedersehen, Billie«, wendet er sich an das Mädchen.
»Wiedersehen«, sagt sie.
Er wendet sich ab und geht. Nach einer Weile bleibt er stehen, dreht sich um und sieht ihnen nach, drei sich entfernende Gestalten, in schwere Mäntel gehüllt, die langsam in Richtung Parkplatz den Hügel hinaufsteigen, Billies Hand in der Ninas. Und dann sieht er, wie Nina den Kopf nach ihm umdreht. Er kann ihre Augen nicht sehen, und ihr Gesicht ist durch die Entfernung verwischt. Ein kleiner, weißlicher Fleck bleibt übrig, und dann ist auch der verschwunden.
Auf dem Heimweg scheinen seine Eingeweide zu kollabieren. Die Weichheit der Locken des Mädchens hängt ihm immer noch in den Fingern. Über ihm braut sich eine Sorgenwolke zusammen. Eine Wunde ist aufgerissen worden, denkt er, und die Blutung hat eingesetzt. Der Abend senkt sich herab, und sein Auto rast durch die zunehmende Dunkelheit, verschlingt mit seinen Scheinwerfern die gelbe Mittellinie. Er fühlt sich benommen und schwindlig. Er packt das Lenkrad mit aller Kraft. Wo sind deine Füße in diesem Moment? Er murmelt vor sich hin; atme, entspanne deine Muskeln, lass deine Gedanken davonschweben wie Herbstwolken, lass sie fließen. Beobachte sie, ohne sie festzuhalten. Ihre Locken, eine solch seidige Weichheit; ein winziges, molliges Bärenjunges in einem leuchtend roten Mantel. Das Licht in ihren Augen; lass los, gleite auf deinen Gefühlen dahin. Was hast du getan? Was hat dich heute hierhergeführt? Wohin steuert dieser Gebrauchtwagen? Er muss sie erschreckt haben. Sie muss sich ängstigen, und das zu Recht; ein solcher Übergriff, verzweifelt, unverschämt, wie sollte sie
nicht alarmiert sein? Und ihre Besorgnis wird mit Sicherheit auch in das Bewusstsein des Mädchens dringen; ohne Zweifel wird sich etwas davon auf sie übertragen; alles überträgt sich. Und dann wieder Aufregung; eine Flamme des Begehrens muss auch in Nina entzündet worden sein. Sicherlich hat es sie erregt, ihn so zu sehen, in einem ungewohnten Kontext, abrupt, unerwartet, so wie es anfangs der Fall war, wie es anfangs immer der Fall ist, bevor es verblasst und einem aus den Händen gleitet und sich auflöst; der durchdringende Blitz in den Eingeweiden, das heftige Verlangen, der Impuls, die Schale der Realität zu zerschlagen; die trunkene Freiheit eines jeden Anfangs, der Blick eines Kindes, die elektrisierte Neugier eines Kindes. Sicherlich wurde all dies auch tief in ihr entfacht; die Sehnsucht und die unlenkbaren Aufwallungen. Sagen Sie nicht, ich fühle mich so und so, sagt er stets zu seinen Klienten; sagen Sie, ein Teil von mir fühlt sich so und so; denn es gibt immer einen anderen Teil, das Auge inmitten des Sturms. Und die Antithese ist immer gegenwärtig; denn wir ängstigen uns vor unseren Sehnsüchten und sehnen uns nach unseren Ängsten. Und auch Nina muss einen Anflug davon verspüren, den Stich und den süßen Biss; auch sie wird manchmal mitten in der Nacht aufwachen, in ein Gespinst aus Grauen eingewoben. Dann sieht sie sich selbst, Jahre später, ans Krankenbett ihres Mannes gefesselt in dem vergeblichen Versuch, gegen den Zerfall, das unablässige Fortschreiten seiner Krankheit anzukämpfen, seinen immer schwächer werdenden Körper zu erhalten. Auch sie wird hin und wieder zum Himmel hinaufblicken, über das üppige Grün der Bäume und die Herden weißer Schäfchenwolken hinweg, die auf der unendlichen blauen Wiese dahinsegeln. Auch sie stellt sich Fragen und hat Sehnsüchte. Auch sie ist müde. Tu das Richtige, das Richtige, das Richtige, bis du dich nicht mehr
daran erinnern kannst, was es ist und was daran richtig ist. Bis die Grenzen verwischen, wie sie es für den Reisenden auf diesen endlosen Feldern tun, wenn die Tiefe des offenen Horizonts, ohne einen Berg oder den Schatten eines Berges, den Blick des Reisenden erobert und sich darin verhakt und stillschweigend in seinen Blutkreislauf eindringt, in seinen
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