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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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Walser.«
    »Ja, genau. Sie erzählten diese Geschichte, wie einer seiner Bewunderer ihm in einer psychiatrischen Anstalt begegnete und ihn fragte, warum er nicht schreibe, und er antwortete: Ich bin nicht hier, um zu schreiben, ich bin hier, um verrückt zu sein.«
    »Ja, ich erinnere mich. Wir sprachen im Unterricht darüber im Zusammenhang mit der inneren Stimme …«
    »Ich erinnere mich nicht gut an die Stunde, ich meine, ich habe mir natürlich Notizen gemacht, aber diese Worte, die haben etwas mit mir angestellt. Sie sind in meinem Kopf hängen geblieben, ich weiß nicht, warum, und Sie mögen die Frage Warum nicht, aber die Frage hat mich nicht mehr losgelassen. Ich fing an nachzudenken: Warum bist du hier? Es war immer klar für mich. Denn die Stimmen um mich herum waren klar, und ich habe den Erwartungen entsprochen, wissen Sie, denn das ist das Zuhause, das man hat, die Kraft, und ich habe die Regeln immer verstanden. Ich habe die Regeln mühelos akzeptiert; aber die innere Stimme …« Ihre Stimme zerfasert und verstummt. Sie reißt sich zusammen und richtet sich auf ihrem Stuhl auf: »Ich plappere daher, und Sie haben wahrscheinlich zu tun. Es tut mir leid; ich werde von jetzt an pünktlich sein. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«
    »Machen wir uns hier keine Sorgen über mich«, sagt er, »konzentrieren wir uns auf Sie.«
    »Ja, ja.«
    »Schauen Sie, Jennifer«, er beugt sich zu ihr. »Ich verstehe, was Sie durchmachen. Nicht ganz, aber ich höre die Musik. Und ich habe keinen Rat für Sie, das wissen Sie aus den Gesprächen
im Unterricht. Nur eines: Diese Krise, die Sie gerade durchleben, ist keine Krise, es ist ein Geschenk. Was immer auch geschieht, wie auch immer Sie sich entscheiden, ist eine ganz andere Frage. Doch dieser Moment der Selbstreflexion ist bedeutsam. Er ist ein Geschenk, das Sie sich selbst machen.«
    Sie wischt eine Träne ab.
    »Danke«, sagt sie, »danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mir zuzuhören.«
    »Es ist mir eine Ehre«, sagt er, »und noch etwas, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
    »Ja, sicher.«
    »Verletzen Sie sich?« Er zeichnet mit den Fingern auf seinen Unterarm.
    Sie sieht ihn überrascht an. Eine Pause entsteht. »Woher wissen Sie das?«
    »Ich konnte es sehen.«
    »Ich bedecke meine Arme. Ich trage immer lange Ärmel.«
    »Das habe ich gesehen.«
    »Ich habe erst vor Kurzem damit angefangen«, sagt sie, »ehrlich. «
    Er nickt. »Als Ihr Lehrer darf ich mich nicht zu sehr in Ihr Privatleben einmischen, und ich weiß nicht viel über Sie. Aber eines weiß ich: Die Verletzungen werden den Schmerz nicht vergessen machen. Und der Schmerz, die Zweifel und Ängste sind Dinge, mit denen Sie sich in einer Therapie auseinandersetzen können. Sie müssen nicht alles alleine tragen. Niemand vermag die ganze Last allein zu tragen.«
    »Sie sind Psychologe. Können Sie mich behandeln?«
    Er schüttelt den Kopf: »Nein. Sie sind meine Studentin, und eine doppelte Beziehung ist uns nicht erlaubt. Aber wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen jemanden empfehlen …«

    »Danke«, sagt sie abrupt, »ich werde darüber nachdenken.« Sie steht auf und drückt ihre Bücher an die Brust. An der Tür dreht sie sich zu ihm um. »Ich habe eine Antwort für Sie«, sagt sie.
    »Eine Antwort?«
    »Die Geschichte mit dem Vogel in Holland, der die Dominosteine zu Fall brachte und erschossen wurde, Sie fragten, wovon sie handelt.«
    »Ja.«
    »Ich weiß, wovon sie handelt. Es ist eine Geschichte, die man zerlegen und analysieren kann, um darin Analogien und Lektionen zu erkennen, und dann wird daraus eine Geschichte über das Leben. Aber man kann sie auch als Ganzes nehmen, und dann ist es keine Geschichte über das Leben. Dann ist es das Leben.«
    Sie dreht sich um und geht.

31
    E ine Woche vergeht, und kein Wort von Nina. Der Psychologe sitzt in seinem Sprechzimmer in der Praxis für Angsterkrankungen, und die Angst nagt an seinem Innern. Er überprüft seine E-Mails. Nichts. Er starrt auf das Telefon, bittend und fordernd. Nichts. Plötzlich hat er das Gefühl, über eine knarrende Treppe in einen dunklen Keller hinunterzusteigen. Natürlich ist sie wütend, denn er hat seinen Schwur gebrochen, ihre Vereinbarung besudelt, das empfindliche Gleichgewicht zerstört, die dünne Schale mit solcher Sorglosigkeit zertrümmert, hat sich einen Moment lang gehen lassen; was in sich gehen lassen? Eine Sehnsucht; er hat zugelassen, dass er in den weiten Himmel der Verlangens

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