Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Körper und in sein Bewusstsein; bis der Reisende selbst sich für einen Augenblick in ein endloses Feld ohne ein Hier oder Dort verwandelt, bewegungslos, ausgenommen das Flüstern des Windes, nur Licht und Dunkelheit. Ja, er hat ein Versprechen gegeben und einen Schwur geleistet; doch er ist nicht naiv und nicht länger unschuldig. Tagein, tagaus sieht er in dem kleinen Zimmer den Aufmarsch des Menschlichen, voll bekleidet und dennoch nackt. Tagein, tagaus sieht er die tönernen Gefäße der Versprechungen zerbrechen, ihren Inhalt, der sich in Myriaden von Farben und Gerüchen über den Boden ergießt, und die Scherben, die sich wieder zu Staub verwandeln, aus dem neue Gefäße geformt werden, und so weiter und so weiter, morgen und immerdar; und wer wird einen Einwand wagen? Wer wird sich hinstellen und mahnend den Zeigefinger heben? Wer kann für sich beanspruchen, den Code geknackt zu haben?
Sein Wagen rast jetzt dahin, die Scheinwerfer verschlingen die Mittellinie. Er fährt im Zickzack zwischen den Lastwagen hindurch, schwerfällige Ungetüme im Vergleich zu seinem Wagen, diesem virilen Panther. Mein Kind. Mein Kind. Ihre bernsteinfarbenen Locken, seidig und hell; ihr perlendes Lachen. Meines. Von mir; mein Samen, mein Fleisch und Blut. Billie. Seine Schläfen pochen. Er atmet schwer. Er hält am Rand des Highways. Riesige Lastwagen donnern vorbei wie die Waggons eines endlosen Zuges, fahren klatschend durch den schmutzigen Schlamm und bringen im Vorbeifahren die
Karosserie seines Autos zum Erzittern. Er sinkt auf seinem Sitz in sich zusammen, legt beide Hände auf das Lenkrad und bettet den Kopf darauf. Wo sind deine Füße in diesem Moment? Herbstwolken, frische, klare Luft.
Draußen wird ein durchdringendes Kreischen hörbar, eine Sirene. Er setzt sich auf, wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Hinter ihm hält mit schwerem Aufstöhnen ein Polizeiwagen. Er sitzt still da, die Hände auf dem Lenkrad. Er ist gleichzeitig peinlich berührt und erleichtert. Er hat keine Angst. Er hat keine Gesetze gebrochen, und schmerzliche Gedanken sind noch nicht Grund genug, jemanden zu verhaften. Er fährt sein Fenster herunter. Der Polizist, massiv gebaut, mit dicken Armen in einer gebügelten Uniform, kommt gemächlich näher und stellt sich, wie Polizisten das tun, ein klein wenig hinter ihn neben das Fenster.
»Irgendwelche Probleme?« Seine Stimme, leise und höflich, straft seine walähnliche Präsenz Lügen.
»Nein, nein«, sagt der Psychologe. »Ich musste nur ein paar Minuten anhalten. Kopfschmerzen.«
»Nun, Sir«, spricht der höfliche Wal, »es ist nicht gestattet, am Rand des Highways anzuhalten. Wissen Sie das?«
»Ja, natürlich, ich habe nur ein paar Minuten angehalten …«
»Ein Unfall kann innerhalb von Sekunden passieren, Sir. Kein Stopp auf dem Seitenstreifen.«
»Meine Schuld«, sagt der Psychologe, »ich habe einen Augenblick nicht nachgedacht.«
»Wenn Sie müde sind, sollten Sie anhalten und in einer der Raststätten am Highway Pause machen. Zwei Meilen weiter die Straße entlang ist eine, Sir.«
»Ich verstehe. Das tue ich.«
Der Wal sagt lange Zeit nichts. Der Psychologe sieht, wie er
sich vorbeugt und mit seiner Taschenlampe durch das Beifahrerfenster auf den Rücksitz leuchtet. »Es steht Ihnen frei, weiterzufahren, Sir. Gute Fahrt«, sagt er schließlich.
Der Psychologe rollt zuerst gemächlich über den Seitenstreifen, beschleunigt dann und fädelt sich wieder in den Verkehrsstrom ein. Sein Kopf, stellt er fest, ist jetzt wieder klar, und die Muskeln in seinem Körper haben sich beruhigt und entspannt. Irgendetwas an der Gegenwart des Polizisten, väterlich und direkt, hat den Psychologen beruhigt. Lass dich nicht hinreißen, denkt er, lass dir Zeit. Wahre die Perspektive. Versuche nicht, den Apfel in einem Bissen hinunterzuschlingen. Sondern Stück für Stück.
30
A m Nachmittag sitzt er in seinem Büro auf dem Campus und müht sich damit ab, einen Stapel Arbeiten der Studenten zu bewerten. Es klopft an der Tür.
»Ja«, bellt er und richtet sich langsam auf.
Jennifer kommt herein, einen Bücherstapel an die Brust gepresst, mit gesenktem Blick. »Sie wollten mich sprechen, Professor? «
»Ja«, sagt er und nickt, »bitte nehmen Sie Platz.« Er weist auf den Stuhl. Sie setzt sich, um ihre Bücher geschmiegt.
»Sie sind eine begabte Studentin«, sagt er. »Sehr begabt. Ich denke, es ist wichtig, dass Sie Gewohnheiten entwickeln, die Ihre Fähigkeit, Ihre Talente zum
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