Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
beiden Händen und reckt den Hals, um etwas zu sehen. Sechs Stunden Fahrt, rechnet er, und dann ist er da. Er hat im Computer Ninas Büroadresse ausfindig gemacht. Er wird dort warten und ihr zum Hort folgen; wird einen Blick auf Billie erhaschen, nur ein einziges Mal ihre schimmernde Schönheit in sich aufnehmen, und dann wird er umkehren und nach Hause fahren. Nur ein einziges Mal, bevor sie nach Kalifornien ziehen. Nach drei Stunden hält er an einer Tankstelle, um zu tanken und etwas zu essen. Er kauft sich ein belegtes Brötchen und beißt während des Fahrens davon ab. Er telefoniert und sagt die wenigen Termine dieses Tages ab. Eine Stunde später blickt er sich inmitten des Schneetreibens um. So weit das Auge reicht, ist er von froststarrenden Feldern umgeben, und für eine Sekunde kommt ihm seine Zuversicht abhanden.
Eine Sekunde lang weiß er nicht, ob er auf dem Hinweg oder auf dem Rückweg ist. Doch dann kehrt seine Konzentration zurück, und er hält nach den Wegweisern Ausschau; er beißt in einen mitgebrachten Apfel und fährt weiter. Gegen Nachmittag hat er den Stadtrand erreicht; ein Vorort wie alle Vororte; Tankstellen, Fastfoodrestaurants, Autowerkstätten, Parkplätze, Banken; überall Asphalt, schmutzige Teerbeläge, und die Luft summt vor amerikanischer Verzweiflung, erschöpft, verbittert und ungeduldig. Er blickt auf den Routenplan, den er sich vorher ausgedruckt hat, und macht sich auf den Weg zum Campus. Er parkt sein Auto in der Nähe des Gebäudes, das den Fachbereich Psychologie beherbergt, und stellt fest, dass es aufgeklart hat. Die Sonne scheint. Ein angespannter Übermut regt sich in ihm. Zwei junge Studenten kommen aus der Eingangstür und gehen lachend an ihm vorbei, in ihre Parkas eingemummt wie Bärenjunge. Ein bärtiger Mann mit einer prallen braunen Aktentasche geht vorüber und spricht in ein Mobiltelefon, das er unter die Kapuze seiner Jacke gesteckt hat. Und da ist sie und geht direkt an seinem Wagen vorbei. Er drückt sich in seinen Sitz und folgt ihr mit seinem Blick. Unvermittelt schleicht sich Unbehagen in seine Gedanken. Was tust du hier? Und warum versteckst du dich vor Nina? Doch auch eine gewisse verstockte Halsstarrigkeit macht sich bemerkbar, und so etwas wie kindliche Aufregung. Was ist los? Nichts Böses geschieht. Ein Mann kann seine Tochter sehen und seine Geliebte begehren. Ein Mann darf seine Geheimnisse haben, Dinge, die nur ihn etwas angehen, Wissen, das nicht dazu da ist, geteilt zu werden. Ein Mann darf seine innere Welt haben, seine Fantasien. Ihr Auto verlässt den Parkplatz, und er rollt hinterher, hält Abstand. Hin und wieder rückt er an einer Verkehrsampel näher heran und erkennt durch die Rückscheibe den Umriss ihres
Kopfes, ihren langen Hals. Dieser Anblick erinnert ihn an ihren Duft, an das Gefühl ihrer warmen Haut, die Dunkelheit zwischen ihren Schenkeln. Seine Gedanken wirbeln durcheinander, und er verliert sie beinahe aus den Augen, doch da biegt sie nach rechts in eine schmale Seitenstraße und hält vor einem alten Gebäude, das von hohen Bäumen umstanden ist. Sie geht durch das Tor und verschwindet im Eingang. Er wartet, und da sind sie, eine hochgewachsene Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand, das in einen roten Mantel gehüllt ist, einen gelben Schal um den Hals. Sie überqueren die Straße. Das Mädchen dreht den Kopf, und eine Sekunde lang erhascht er einen vollen Blick auf ihr rundes Gesicht, die Mandelaugen, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, das unschuldige Lächeln. Das Mädchen zeigt mit einem winzigen Zeigefinger nach oben. Ihre Mutter beugt sich zu ihr und knöpft ihr den Mantel zu, und sie gehen zu ihrem Auto. Mein Mädchen, wispert er vor sich hin. Billie. Geh nach Hause, denkt er. Du hast sie gesehen, und sie ist perfekt; voller Leben, von Liebe umgeben. Geh nach Hause.
Er fährt hinter ihnen her. Der Himmel ist klar; ein reines Licht salbt die Stadt. Er folgt ihnen in die Außenbezirke der Stadt. Ein urtümlicher Jagdeifer steigt in ihm auf. Sie parken neben einem kleinen, zugefrorenen Teich. Die Sonne scheint jetzt hell. Sie verschwinden in einem kleinen Gebäude an der Seite und tauchen ein paar Minuten später mit Schlittschuhen an den Füßen wieder auf. Sie betreten mit unsicheren Schritten die Eisfläche, und das Mädchen fängt sofort an, Schwünge zu machen, fröhlich über die schimmernde Eisfläche zu laufen, sich furchtlos umzudrehen und ihrer Mutter zuzuwinken und ihr zu bedeuten, sie solle ihr
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