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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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mit dem am tiefsten gefurchten Gehirn.
    Aber die Schwanneke mit ihrer Integrationswut hatte es wieder nicht lassen können. Was sollte man auch von jemandem erwarten, der aus Bankreihen Buchstaben und aus Stühlen Halbkreise formte: Lange Zeit ein großes U, das ihren Lehrertisch umarmte. Neuerdings war es sogar ein eckiges O, so dass sie mit allen verbunden war und es keinen Anfang und kein Ende mehr gab, sondern nur noch den runden Augenblick, wie sie einmal im Lehrerzimmer kundtat. Von den Elftklässlern ließ sie sich duzen. Karola sollen wir sie nennen, hatte Inge Lohmark eine Schülerin sagen hören. Karola! Meine Güte. Sie waren doch nicht beim Frisör!
    Inge Lohmark siezte ihre Schüler ab der neunten Klasse. Es war eine Angewohnheit aus der Zeit, in der sie in diesem Lebensjahr der Jugend geweiht worden waren. Mit Weltall, Erde, Mensch und sozialistischem Nelkenstrauß. Es gab kein wirkungsvolleres Mittel, sie an die eigene Unfertigkeit zu erinnern und sie sich vom Leib zu halten.
    Zum professionellen Verhältnis gehörten keine Nähe, kein Verständnis. Armselig, aber begreiflich, wenn Schüler um die Gunst der Lehrer buhlten. Das Kriechen vor dem Machthaber. Unverzeihlich hingegen war es, wie sich Lehrer an Halbwüchsige ranschmissen. Halber Hintern auf dem Lehrerpult. Geklaute Moden und Wörter. Um den Hals bunte Tücher. Blondierte Strähnen. Alles nur, um sich mit ihnen gemein zu machen. Ohne Würde. Den letzten Rest Anstand gaben sie preis für die kurze Illusion einer Gemeinschaft. Allen voran natürlich die Schwanneke mit ihren Lieblingen: tuschelnden Gören, die sie in Pausengespräche verwickelte, und Stimmbruchopfer, vor denen sie glupschäugig und mit Schminklippen die allerbilligste Schlüsselreizshow abzog. Wohl lange nicht in den Spiegel geschaut.
    Inge Lohmark hatte keinen Liebling, und sie würde nie einen haben. Das Schwärmen war ein unreifer, fehlgeleiteter Gefühlsüberschwang, eine hormonell bedingte Exaltiertheit, die Heranwachsende befiel. Dem Rockzipfel der Mutter schon entwöhnt, aber den Reizen des anderen Geschlechts noch nicht gewachsen. Ersatzweise wurde ein hilfloser Geschlechtsgenosse oder ein unerreichbarer Volljähriger zum Adressaten unausgegorener Gefühle. Fleckige Wangen. Klebrige Augen. Entzündete Nerven. Eine peinliche Verfehlung, die sich im Normalfall mit der abgeschlossenen Reifung der Keimdrüsen von selbst erledigte. Aber natürlich: Wem die fachliche Kompetenz fehlte, der wurde seinen Unterrichtsstoff nur noch mithilfe sexueller Signale los. Scharwenzelnde Referendare. Sogenannte Lieblingslehrer. Die Schwanneke.
    Wie sie auf der Lehrerkonferenz ihr Engagement für den Idioten aus der Achten verteidigt hatte. Die Stirn in Falten geworfen und mit ihrem rot angemalten Mund ins Kollegium gerufen: Wir brauchen schließlich jeden Schüler! Es hätte nur noch gefehlt, dass ausgerechnet sie, die kinderlose Schwanneke, die vor kurzem auch noch von ihrem Mann sitzengelassen worden war, davon angefangen hätte, dass die Kinder doch unsere Zukunft wären.
    Von wegen Zukunft. Diese Kinder hier waren nicht die Zukunft. Genau genommen waren sie die Vergangenheit: Vor ihr saß die neunte Klasse. Es war die letzte, die es am Charles-Darwin-Gymnasium geben sollte und die in vier Jahren ihr Abitur machen würde. Und Inge Lohmark sollte die Klassenlehrerin spielen. Einfach nur Klasse Neun. Sie brauchten keine angehängten Buchstaben mehr, die sie früher von A bis G vergeben hatten. Mit Jahrgängen, so stark wie eine Kompanie im Kriegsfall – jedenfalls zahlenmäßig. Gerade so hatten sie noch mal eine Klasse zusammengekratzt. Fast ein Wunder, war es doch der geburtenschwächste Jahrgang im Bundesland. Für die Klassenstufen danach hatte es nicht mehr gereicht. Auch nicht, als sich herumsprach, dass es das Ende für das Darwin bedeutete, und sich die Kollegen von den drei Regionalschulen darauf einigten, mit den Empfehlungen für die gymnasiale Oberstufe großzügig umzugehen. Die Folge war, dass jedes halbwegs alphabetisierte Kind in den Gymnasiastenstand erhoben wurde.
    Eltern, die überzeugt waren, dass ihr Kind entgegen jeder Empfehlung aufs Gymnasium gehörte, hatte es immer gegeben. Aber mittlerweile gab es in dieser Stadt nicht mal mehr genug Eltern.
    Nein, diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution. Entwicklung war etwas anderes als Wachstum. Dass qualitative und quantitative Veränderung weitestgehend unabhängig voneinander

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