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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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ein hellblonder Knirps in Grundschulgröße. Ein Trauerspiel, wie die Natur hier die ungleiche Entwicklung der Geschlechter vorführte.
    Rechts außen an der Fensterfront kippelte ein Herrentierchen mit offenem Mund, das nur darauf wartete, mit einer ordinären Bemerkung das Revier zu markieren. Fehlte nur noch, dass es sich auf die Brust trommelte. Es musste beschäftigt werden. Vor ihr lag das Blatt, auf dem die Schüler ihre Namen eingetragen hatten, Krakeleien auf dem Weg zu einer rechtsgültigen Unterschrift. Kevin. Klar. Wie sonst.
    »Kevin!« Kevin schreckte hoch.
    »Nennen Sie ein paar Ökosysteme unserer Region!« Sein Vordermann feixte. Na warte.
    »Paul, was ist das für ein Baum da draußen?« Paul schaute aus dem Fenster.
    »Ähm.« Ein mickriges Räuspern. Fast mitleiderregend.
    »Danke.« Der war versorgt.
    »Das haben wir nicht gehabt«, behauptete Kevin. Dass ihm nichts Besseres einfiel. Ein Gehirn wie ein Hohlorgan.
    »Ach ja?« Nun zur ganzen Klasse. Frontalangriff.
    »Denken Sie doch alle noch einmal nach.«
    Stille. Schließlich meldete sich der Pferdeschwanz in der ersten Reihe, und Inge Lohmark tat ihm den Gefallen. Natürlich wusste sie es. So eine gab es immer. So ein Pferdeschwanzpferdchen, das den Unterrichtskarren aus dem Dreck zog. Für diese Mädchen wurden die Schulbücher geschrieben. Gierig nach abgepacktem Wissen. Merksätze, die sie mit Glitzerstift in ihre Hefte schrieben. Die ließen sich noch einschüchtern vom Rotstift des Lehrers. Albernes Instrument scheinbar grenzenloser Macht.
    Sie kannte sie alle. Sie erkannte sie sofort. Schüler wie diese hatte sie schon haufenweise gehabt, klassenweise, Jahr für Jahr. Die brauchten sich nicht einzubilden, sie wären besonders. Es gab keine Überraschungen. Nur die Besetzung wechselte. Wer spielte diesmal mit? Ein Blick auf den Sitzplan genügte. Die Benennung war alles. Jeder Organismus hatte einen Ruf- und Familiennamen: Art. Gattung. Ordnung. Klasse. Aber erst mal wollte sie sich nur ihre Vornamen merken.



Das war es schon. Wie immer: keine großen Überraschungen. Pferdeschwänzchen war schon fertig. Die Hände flach auf dem Tisch. Gebannter Blick zur Tafel.
    Inge Lohmark trat ans Fenster. In die weiche Vormittagssonne. Wie gut das tat. Die Bäume hatten sich schon zu verfärben begonnen. Das abgebaute Chlorophyll machte die Bühne frei für die leuchtenden Blattpigmente. Carotinoide und Xantophylle. Die langstieligen, von Miniermotten zerfressenen Blätter der Kastanie hatten gelbe Ränder. Dass die Bäume sich so eine Arbeit machten mit Blättern, von denen sie sich ohnehin bald trennten. Genau wie sie als Lehrerin. Jedes Jahr das gleiche Spiel. Seit über dreißig Jahren. Immer wieder von vorn.
    Sie waren zu jung, um die Bedeutung des gemeinsam erworbenen Wissens würdigen zu können. Dankbarkeit war nicht zu erwarten. Hier ging es nur noch um Schadensbegrenzung. Bestenfalls. Schüler waren gedächtnislose Wesen. Sie würden alle eines Tages gehen. Und nur sie allein würde zurückbleiben, mit trockenen Händen vom Kreidestaub. In diesem Zimmer, hier, zwischen der Sammlung zusammengerollter Schautafeln und der Vitrine mit dem Anschauungsmaterial: ein Skelett mit gebrochenen Knochen, speckige Organattrappen mit Platzwunden in der Plastehaut und der ausgestopfte Dachs mit Brandlöchern im Fell, der mit toten Augen durch die Scheiben stierte. Das könnten sie auch bald mit ihr machen. Wie der englische Gelehrte, der seiner Universität über den Tod hinaus verbunden bleiben wollte. Als Mumie an den wöchentlichen Sitzungen teilnehmen. Sein letzter Wunsch wurde ihm erfüllt. Man zog seinem Skelett seine Kleider an. Stopfte sie mit Stroh aus. Balsamierte den Schädel ein. Aber dabei lief irgendwas schief, so dass man schließlich einen Wachskopf auf die Überreste montierte. Sie hatte ihn gesehen, als sie in London war. Claudia hatte da mal studiert. Wie er da hockte, in einem riesigen Holzkasten hinter Glas. Mit Spazierstock, Strohhut und grünen Wildlederhandschuhen, die ganz genauso aussahen wie das Paar, das sie sich im Frühjahr neunzehnhundertsiebenundachtzig im Exquisit gekauft hatte. Für siebenundachtzig Mark. Wladimir Iljitsch schlief wenigstens und konnte vom Kommunismus träumen. Aber dieser Engländer war bis heute im Amt. Täglich beäugte er die Studenten auf ihrem Weg in die Hörsäle. Die Vitrine war sein Grab. Er selbst sein eigenes Denkmal. Ewiges Leben. Besser als Organspenden.
    »Alte Menschen«, fing sie

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