Der Hals der Giraffe
erzählen. Für die Schüler war es ohnehin das Beste, sie in jedem Moment spüren zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert waren. Anstatt ihnen vorzugaukeln, sie hätten irgendetwas zu sagen. Bei ihr gab es kein Mitspracherecht und keine Wahlmöglichkeit. Niemand hatte eine Wahl. Es gab die Zuchtwahl und sonst nichts.
Das Jahr begann jetzt. Auch wenn es schon längst angefangen hatte. Es begann für sie heute, am ersten September, der dieses Jahr auf einen Montag fiel. Und Inge Lohmark fasste ihre guten Vorsätze jetzt, im verwelkten Sommer, und nicht in der grellen Silvesternacht. Sie war immer froh, dass ihr Schulplaner sie sicher über den kalendarischen Jahreswechsel brachte. Ein einfaches Umblättern, ohne Countdown und Sektglasgeklirre.
Inge Lohmark sah über die drei Bankreihen und bewegte den Kopf dabei nicht einen einzigen Zentimeter. Das hatte sie perfektioniert in all den Jahren: den allmächtigen, unbewegten Blick. Laut Statistik waren immer mindestens zwei dabei, die sich wirklich für das Fach interessierten. Aber wie es aussah, war die Statistik in Gefahr. Gauß’sche Normalverteilung hin oder her. Wie hatten sie es nur bis hierher geschafft?
Man sah ihnen die sechs Wochen Gammelei an. Die Bücher hatte keiner von denen aufgeschlagen. Große Ferien. Nicht mehr ganz so groß wie früher. Aber immer noch zu lang! Es würde mindestens einen Monat dauern, bis man sie wieder an den Biorhythmus der Schule gewöhnt hatte. Wenigstens musste sie sich nicht ihre Geschichten anhören. Die konnten sie der Schwanneke erzählen, die mit jeder neuen Klasse ein Kennenlernspiel veranstaltete. Nach einer halben Stunde waren alle Beteiligten in den Fäden eines roten Wollknäuels verheddert und konnten die Namen und Hobbies ihrer Sitznachbarn aufsagen.
Es waren nur vereinzelt ein paar Plätze besetzt. So fiel erst recht auf, wie wenige es waren. Spärliches Publikum in ihrem Naturtheater: zwölf Schüler – fünf Jungen, sieben Mädchen.Der dreizehnte war wieder zurück auf die Realschule gegangen, obwohl die Schwanneke sich mächtig für ihn ins Zeug gelegt hatte. Mit wiederholten Nachhilfestunden, Hausbesuchen und psychologischem Gutachten. Irgendeine Konzentrationsstörung. Was es nicht alles gab! Lauter angelesene Entwicklungsstörungen. Nach der Leserechtschreibschwäche die Rechenschwäche. Was würde als Nächstes kommen? Eine Biologie-Allergie? Früher gab es nur Unsportliche und Unmusikalische. Und die mussten trotzdem loslaufen und mitsingen. Alles nur eine Frage des Willens.
Es lohnte einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper. Früher oder später würden die Unterbelichteten ohnehin auf der Strecke bleiben. Es war empfehlenswert, sie mit der Wahrheit so früh wie möglich zu konfrontieren, anstatt ihnen nach jedem Scheitern eine neue Chance zu geben. Mit der Wahrheit, dass sie die Voraussetzungen dafür, ein vollwertiges, also nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, einfach nicht mitbrachten. Wozu die Heuchelei? Nicht jeder konnte es schaffen. Warum auch? Blindgänger waren in jedem Jahrgang dabei. Bei manchen konnte man schon froh sein, wenn es gelang, ihnen ein paar grundlegende Tugenden anzutrainieren. Höflichkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit. Es war ein Jammer, dass es keine Kopfnoten mehr gab. Ordnung. Fleiß. Mitarbeit. Betragen. Ein Armutszeugnis für dieses Bildungssystem.
Je später man einen Versager loswurde, desto gefährlicher wurde er. Fing an, seine Mitmenschen zu bedrängen und unberechtigte Forderungen zu stellen: nach vorzeigbaren Abschlussnoten, einer positiven Beurteilung, womöglich sogar nach einem gut bezahlten Arbeitsplatz und einem glücklichen Leben. Das Resultat langjähriger Unterstützung, kurzsichtigen Wohlwollens und fahrlässiger Großherzigkeit. Wer den hoffnungslosen Fällen weismachte, dazuzugehören, der brauchte sich nicht zu wundern, wenn sie irgendwann mit Rohrbomben und Kleinkalibergewehren in die Schule marschierten, um sich zu rächen für all das, was ihnen jahrelang versprochen und immer wieder vorenthalten wurde. Und dann mit Lichterketten ankommen.
Neuerdings pochte ja jeder auf seine Selbstverwirklichung. Es war lächerlich. Nichts und niemand war gerecht. Eine Gesellschaft schon gar nicht. Nur die Natur vielleicht. Nicht umsonst hatte uns das Prinzip der Auslese zu dem gemacht, was wir heute waren: das Lebewesen
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