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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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tötet das Nachgeborene. Ein paar Tage hackt es auf ihn ein. Bis es stirbt und dann von den Eltern verfüttert wird. Man nennt das angeborenen Kainismus.« Ein Blick in die erste Reihe. Der Pfarrerssohn rührte sich nicht. Hatte er seinen Kinderglauben schon verloren? Zum Überleben war mehr nötig als ein biblisches Paar, das auf die Arche Noah spazierte. Also noch einmal.
    »Ein Geschwisterchen tötet das andere.«
    Stilles Entsetzen.
    »Das ist nicht grausam, das ist ganz natürlich.« Unter Umständen gehörte sogar das Töten der Jungen zur Nachwuchspflege.
    Jetzt waren sie wieder wach. Mord und Totschlag.
    »Warum legen sie dann überhaupt zwei Eier?« Paul. Er schien es wirklich wissen zu wollen.
    »Na, zur Reserve.« Es war ganz einfach.
    »Und die Eltern?« Tabea machte große Augen.
    »Die schauen zu.«
    Das Pausenzeichen ertönte. Das war erst der Anfang, die erste Lektion.
    Kein schlechtes Schlusswort. Auf den Punkt genau. Es läutete nicht, es rasselte. Die Klingel war immer noch kaputt. Dabei war sie noch vor den Ferien zu Kalkowski gegangen. Hatte ihn zum ersten Mal in dem Büro besucht, das er sich im alten Heizerbunker eingerichtet hatte. Die Wände, mit Tierpostern tapeziert. Penibel aufgeräumter Schreibtisch. Und immer noch der Geruch von Kohle, obwohl sie vor Jahren schon auf Fernwärme umgestiegen waren. Sie hatte ihn gebeten, endlich das Stück Pappe zu entfernen, das die Dreizehntklässler beim letzten Abistreich hinter die Schelle gesteckt hatten. Er hatte sich auf seinem durchgesessenen Bürostuhl zurückgelehnt und etwas von Rache gefaselt. Die Rache der Abiturienten für ein vergeudetes Lebensjahr. Es war ihm sehr ernst. Er klang beinahe wie Kattner. Die vielen Naturaufnahmen an der Wand, dazwischen das Foto einer barbusigen Frau. Ein nacktes Tier unter vielen. Hausmeister blieb Hausmeister. Aber recht hatte er ja. Die neuen Lehrpläne, das ewige Hin und Her. Landtagsbeschlüsse, Kultusministerium. Natürlich war der Stoff auch in zwölf Jahren zu schaffen. Sogar in zehn, wenn man alles Überflüssige wegließe. Den ganzen Kunstkram zum Beispiel. Die Klingel hätte er trotzdem reparieren können.
    Jetzt stopften sie tatsächlich schon die Bücher in die Taschen, die Tür im Visier. Aber Inge Lohmark ging gleich in die Verlängerung. Klare Verhältnisse. Von der ersten Stunde an.
    »Stehen Sie bitte auf.«
    Was sie sagte, wurde gemacht. Dass sie die Schüler am Beginn und Ende der Stunde aufstehen ließ, war ein Signal, das sich bewährt hatte, eine Verstärkung des Klingelzeichens. Ihre Lehrmethode bestand aus einer Reihe von Maßnahmen, die sich im Lauf ihres Lehrerlebens ausgebildet und immer mehr spezialisiert hatten. Früher oder später ersetzte Erfahrung alles Wissen. Nur was sich in der Praxis bewährt hatte, war wahr.
    »Zu Donnerstag …«, sie holte tief Luft, um den Moment noch etwas zu verlängern, »… bearbeiten Sie bitte die Aufgaben fünf und sechs.«
    Kunstpause.
    »Sie dürfen jetzt gehen.« Es klang gnädig. Sollte es auch. Sofort stürzten sie hinaus.
    Inge Lohmark öffnete das Fenster. Endlich frische Luft. Die Blätter rauschten. Lagerfeuerluft. Irgendwer verbrannte wohl schon Laub. Tief einatmen. Das tat gut. Es roch nach Herbst.
    Immer, wenn man glaubte, dass sich nichts mehr ändern, dass alles einfach so weitergehen würde, kam die nächste Jahreszeit. Der natürliche Lauf der Dinge. Reflexartig kamen die Erinnerungen. Was war im letzten Jahr gewesen? Kattners Verkündigung. Fassungslose Kollegen. Was hatten sie denn gedacht? Dass im letzten Moment noch eine akademische Großfamilie hierher zog? Das hätten schon Mormonen sein müssen. Deren Inzuchtbrut hätte es ohnehin nicht aufs Gymnasium geschafft. Und im vorletzten Jahr? Die ersten Strauße. Neun Tiere, denen Wolfgang farbige Strumpfbänder angezogen hatte, damit er sie auseinanderhalten konnte. Neun Strauße in bunten Strapsen, die über die Weide rannten. Das hatte ein Gerede gegeben. Jeden Tag kamen Schaulustige. Acht Hennen, ein Hahn. Mittlerweile waren es zweiunddreißig Tiere. Eine Schulklasse. Früher jedenfalls.
    Sie schloss den Raum ab.
    »Einen Hauch höher, bitte.«
    Das fehlte noch. Auf dem Flur stand die Schwanneke mit zwei Schülern aus der Elf. Die beiden Jungs pressten einen Rahmen an die Wand. An der Fensterfront Schwanneke auf Zehenspitzen. Sie dirigierte mit rudernden Armen. Ein kurzes Kleid über der Jeans. Hasch mich, ich bin der Frühling.
    »Ja, so ist es gut.« Sie spreizte ihre

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