Der Hals der Giraffe
plötzlich an. »Alte Menschen erinnern sich selbst dann noch an die Schulzeit, wenn sie alles andere schon vergessen haben.« Sie träumte immer wieder von ihrer Schulzeit. Vor allem von der Abiturprüfung. Wie sie dastand und ihr nichts einfiel. Und beim Aufwachen dauerte es immer eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Sie war auf der anderen, der sicheren Seite.
Sie drehte sich um. Entgeisterte Blicke.
Man musste höllisch aufpassen. Ehe man sich versah, diskutierte man im Unterricht allerlei Blödsinn. Frühstücksvorlieben. Ursachen der Arbeitslosigkeit. Haustierbeerdigungen. Plötzlich wurden alle putzmunter, und die Stunde war gelaufen. Man musste halsbrecherische Überleitungen bauen, sich zurück zu den Ökosystemen hangeln, wo gerade noch aufgekratzte Kinder sofort wieder leere Gesichter bekamen. Das Wetter war das gefährlichste. Vom Wetter war es nur ein Katzensprung zur persönlichen Befindlichkeit. Aber von ihr sollten sie nichts erfahren. Da half nur, den Faden genau an der Stelle wieder aufzunehmen, wo sie ihn verloren hatte. Betont langsam ging sie zurück zum Lehrerpult. Weg von den bunten Blättern. Vom verhängnisvollen Wetter. Flucht nach vorn.
»Es gibt Fälle, bei denen sich die Alzheimer- und Demenzkranken weder an die Namen ihrer Kinder noch an die ihrer Ehepartner erinnern können, wohl aber an den ihrer Biologielehrerin.« Schlechte Erfahrungen prägten sich nun einmal besser ein als gute.
»Eine Geburt oder eine Heirat mag ein wichtiges Ereignis sein, aber es sichert keinen Platz im Gedächtnis.« Das Hirn, ein Sieb.
»Merken Sie sich: Nichts ist sicher. Sicher ist nichts.«
Jetzt hatte sie sogar angefangen, sich mit dem Zeigefinger an den Kopf zu tippen.
Die Klasse schaute betroffen.
Weiter im Text.
»Etwa zwei Millionen Arten gibt es auf der Welt. Und wenn sich Umweltbedingungen ändern, dann sind sie gefährdet.«
Absolutes Desinteresse.
»Kennen Sie Arten, die bereits ausgestorben sind?«
Eine Handvoll gereckter Ärmchen.
»Ich meine – außer den Dinosauriern.«
Sofort waren die Arme wieder unten. Diese Kinderzimmerpest. Sie konnten eine Amsel nicht von einem Star unterscheiden, aber die Taxonomie ausgestorbener Großreptilien aufsagen. Aus dem Kopf einen Brachiosaurier skizzieren. Frühe Begeisterung für das Morbide. Bald würden sie mit Selbstmordgedanken spielen und nachts auf Friedhöfen herumgeistern. Koketterien mit dem Jenseits. Mehr Todestrend als Todestrieb.
»Der Auerochse zum Beispiel. Das Urwildpferd, der Gänsegeier, der tasmanische Beutelwolf, der Riesenalk, der Dodo und – die Steller’sche Seekuh!«
Sie hatten ja keine Ahnung.
»Ein riesiges Tier, das im Beringmeer lebte. Mit einem tonnenschweren Körper, einem kleinen Kopf und verkümmerten Gliedmaßen. Die Haut war zentimeterdick und fühlte sich an wie die Rinde alter Eichen. Die Seekuh war ein stilles Tier. Sie gab nie einen Laut von sich. Nur wenn sie verwundet wurde, seufzte sie kurz auf. Sie war von Natur aus zahm und kam immer gern ans Ufer, so dass man sie leicht streicheln konnte. Aber eben auch töten.«
»Woher wissen Sie das so genau?« Erika, einfach so, ohne sich zu melden.
Die Frage war berechtigt.
»Von Georg Steller, einem deutschen Naturforscher. Es war einer der letzten, der sie lebendig sah.«
Erika nickte ernst. Sie hatte verstanden. Was ihre Eltern wohl machten? Früher hätte ein Blick ins Klassenbuch genügt. Intelligenzia, Angestellte, Arbeiter, Bauern. O∞ziere zu den Arbeitern. Pastoren zur Intelligenzia.
Ellen meldete sich.
»Ja?«
»Was haben die mit ihr gemacht?« Klar, die witterte eine Leidensgenossin.
»Gegessen. Soll wie Rindfleisch geschmeckt haben.« Kuh blieb Kuh.
Nun aber zurück zu den Lebenden.
»Und welche Arten sind vom Aussterben bedroht?«
Fünf Arme gingen nach oben.
»Vergessen Sie Panda, Koala oder Wal.«
Wieder knickte ein Arm nach dem anderen ein. Tierschutz für Kuscheltiere. Bambi-Effekt. Maskottchen für die Plüschtierindustrie. »Eine bei uns heimische Art zum Beispiel?«
Totale Verunsicherung.
»Vom Schreiadler gibt es in Deutschland nur noch etwa hundert Paare. Einige Bauern bekommen sogar Geld dafür, dass sie ihre Felder brachliegen lassen. Denn so können die Adler ihre Beute leichter schlagen. Sie ernähren sich vor allem von Eidechsen und Singvögeln. Zwei Eier legen sie, aber nur eines der Jungen überlebt.« Richtige Betonung. Jetzt horchten sie auf. »Das Junge, das zuerst schlüpft,
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