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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Weltraumfahrten. Bruderland. Zur Sonne, zum Mond und zu sibirischenGetreidefeldern, Zuckerrüben in Zentralasien, Erdbeeren in der Steppe. Von der Kolchose in die Zelle. Folge mir auf dem Mitschurin-Pfad. Ein Holzweg. Weizen mit mehreren Ähren auf einem Halm. Schon klar: Wenn sich Sommerhartweizen in Winterhartweizen umwandeln ließ, warum dann nicht Weizen in Roggen und Fichten in Kiefern? »Ist ja alles schön und gut. Aber musste es so viel Blödsinn sein? Was wurde nicht alles verkündet: Dass Bakterien in Viren umgewandelt werden. Und pflanzliche Zellen in tierische. Oder dass Zellen aus toter organischer Materie gewonnen werden können und Blutgefäße aus Eigelb. Oder das Quadratnestpflanzverfahren bei Kartoffeln und die Schweinehütten? Und was war mit den Rinderoffenställen? Angeblich sollte das eine naturhafte Form der Tierhaltung sein. Dass ich nicht lache! Das Vieh stand in seiner eigenen Scheiße und holte sich im Winter den Tod. Die proletarische Biologie wollte vielleicht praktisch orientiert sein, aber zu gebrauchen war sie nicht.« Wenn man Tieren den Schwanz abschnitt, hatten sie deswegen noch lange keine schwanzlosen Nachkommen. Experimente brauchten Zeit. Schlussfolgerungen brauchten Zeit. Alles brauchte Zeit. Aber Zeit hatte keiner. Man wollte schnelle Ergebnisse. Reiche Ernte. Brot auf den Tisch. Dicke Ähren und fette Euter. Die kleinen Jerseybullen mit den dicken Kostromakühen. Aus Scheiße wollten sie Bonbons machen.
    Thiele seufzte. »Eigentlich ist die wichtigste Methode des Marxismus-Leninismus, die Dinge zu hinterfragen.«
    »Echt? Das hätte ich nun nicht gedacht.« Meinhard war schon merkwürdig. Keinerlei Bartwuchs. Aber Haare in den Ohren. Wenn Rehböcke zu spät kastriert werden, wächst ihnen eine Perücke anstelle eines Geweihs.
    »Du hast ja recht, Inge. Ein bisschen zu viel Propaganda. Dabei hätten wir das gar nicht nötig gehabt.«
    Zuerst die Kartoffelkäfer, die angeblich amerikanische Flugzeuge abgeworfen hatten, um die Ernte zu zerstören. Einen Pfennig pro Stück. Marmeladegläser voll. Und der Mais, der plötzlich überall angebaut wurde und den Boden mit Stickstoff verseuchte? Die Wurst am Stengel. So ein Blödsinn. Den Weizen mit mehreren Ähren auf einem Halm hatte jedenfalls nie jemand gesehen. Die Mitschurinfelder blieben karg. Ausgedörrte Äcker in sengender Sommerhitze. Am Ende war es wieder der Sperling, der die Einsaat aufgefressen hatte. Und was lernten sie daraus? Der Sperling war ein Wirtschaftsschädling allererster Ordnung. Und: Der Ernteertrag hing im Wesentlichen von der richtigen Aussaat ab. Wenn ein Experiment nicht aufgehen will, muss man eben überlegen, wie man es zu der richtigen Aussage zwingen kann. Worte ihres Genetikprofessors, als er ihre toten Fruchtfliegen entdeckte. Alle hatten gewusst, was er meinte. Durch die Blume. Unverblümt. Kleiner Schubs in die richtige Richtung. Damit die ganze Chose mal aufgeht. Was nicht passt, wird passend gemacht. Auf die Weltformel folgt der Maulkorberlass. »In Budapest haben sie sogar ganze Fruchtfliegenkulturen vernichtet. Als Symbol des Morganismus.«
    »Ist ja gut, Lohmark. Deine amerikanisch-kapitalistische Genetik hat ja auch gesiegt.«
    Ihre Genetik war das doch gar nicht. Sogar in der Biologie gab es offensichtlich immer noch Glaubensrichtungen.
    Thiele war eingeschnappt. Er verschränkte die Arme. Dass er alles immer persönlich nehmen musste.
    Meinhard stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Was ichnicht verstehe: Was ist denn eigentlich an der Genetik so kapitalistisch?«
    Blick zu Thiele. Das sollte er beantworten.
    »Naja. Zu behaupten, dass alles Anlage ist …«
    Thiele wog seinen Schlüsselbund in der Hand.
    »… das Leben vorherbestimmt. Die Schicksalsnummer: Arm bleibt arm und reich reich. Diese bürgerliche Scheiße.«
    Immer noch die alten Sprüche.
    »Die Umgestaltung der Gesellschaft macht doch nicht vor der Natur halt. Die Natur ist doch ein Teil der Gesellschaft! Die muss genauso revolutioniert werden! Und wenn wir die Umwelt verändern, die Gewohnheiten, dann verändern wir über kurz oder lang auch die Menschen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein! Das ist doch klar.«
    Die Schlüssel fielen auf die Tischplatte.
    »Ich meine, sowas wie die innerartliche Konkurrenz … das kann doch nur eine Gesellschaft behaupten, in der sie tagtäglich angewandt wird. Das ist doch kein Naturgesetz, sondern ein Konstrukt kapitalistischer Weltanschauung!« Er blühte richtig auf. Seine Ohren waren

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