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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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stimmte. Und für Parolen war ja nun er zuständig.
    »Denn nur in einer freien, demokratischen Gesellschaft kann das Wissen vermittelt werden, das …«
    Es war doch alles die gleiche Chose. Man nehme demokratisch und frei und ersetze es durch sozialistisch. Raus kam immer die Bildung von allseitig entwickelten Persönlichkeiten. Im Mittelpunkt stand angeblich immer der Mensch.
    Früher sollten die Kinder zu fortschrittlichen und friedliebenden Menschen erzogen werden, heute eben zu freien. Dabei war doch Freiheit nichts anderes als Einsicht in die Notwendigkeit. Niemand war frei. Und sollte es auch gar nicht sein. Allein die Schulpflicht. Das war ein staatlich organisierter Freiheitsentzug. Ausgeheckt von der Konferenz der Kultusminister. Es ging gar nicht um Wissensvermittlung. Sondern darum, die Kinder an einen geregelten Tagesablauf und die jeweils vorherrschende Ideologie zu gewöhnen. Daswar Herrschaftssicherung. Ein paar Jahre Aufsicht, um das Schlimmste zu verhindern. Das Gymnasium als Stillbeschäftigung bis zur Volljährigkeit. Gute Staatsbürger. Gehorsame Untertanen. Nachschub fürs Rentensystem.
    »… Analyse. Interpretation. Selbständiges Handeln. Urteilsfähigkeit. Kritisches Denken …«
    Das kannte sie. Kritisches Denken war immer erlaubt. Nur linientreu musste es sein. Gerade in einem kranken System musste man auf seine Gesundheit achten. Und der Kern aller Gesundheit war die Anpassung.
    »… vor allem aber Kreativität!«
    Jetzt auch noch dieses Totschlagargument. Kreativität war wie Gott. Nicht zu messen, nicht zu beweisen, also inexistent. Ein Hirngespinst, an das sich die Versager klammerten. Wer nichts konnte, war immerhin kreativ. Und Hauptsache die Schwanneke war selig. Als ob er ihr vor versammelter Mannschaft einen Orden verliehen hätte.
    »Die Aufteilung allen Wissens in einzelne, unabhängige Disziplinen ist ja nur behelfsmäßig. Alle Fächer sind letztendlich miteinander verwandt.«
    Na und? Was hieß das schon. Alle Menschen waren miteinander verwandt. Mit der Geburt tappte man in die Falle, aus der keiner entkam. Sie alle waren Wesen, die Vater und Mutter hatten. Zwei Menschen, denen man über Jahre ausgeliefert war. Abhängigkeit durch langanhaltenden Freiheitsentzug. Die Stille beim Mittagsschlaf unter dem Dürerhasen. Seine langen Barthaare, das Fensterkreuz in seiner schwarzen Pupille. Die Pfoten beisammen, auf dem Sprung. Irgendwann trat Gewöhnung ein, die man leicht mit Nähe verwechseln konnte. Die ekelhafte Haut auf der erhitzten Milch. DasStockholm-Syndrom. Und das Einzige, was sie einem hinterließen, war Erbmasse.
    »Wir lernen nie aus … wir lernen unser Leben lang … nicht für die Schule, fürs Leben …« Er war sich wirklich für keinen Kalenderspruch zu schade. Jetzt fehlte nur noch Lenin: Lernen, lernen und nochmals lernen. Der Gestank verzog sich nicht. Am besten durch den Mund atmen.
    »… wir gehen ein Leben lang zur Schule.«
    Das machten sie ja. Aber was half das schon? Auf die größten Herausforderungen konnte man sich ohnehin nicht vorbereiten. Geboren zu werden, zu wachsen, einen Stoffwechsel zu haben, zu altern. Das konnte man nicht lernen. Das ging alles ganz von allein. Es war ihr immer noch ein Rätsel, warum ihre Eltern zusammen gewesen waren. Zwei Menschen, die aus unerfindlichen Gründen jede Nacht gemeinsam im selben Doppelbett schliefen. Ohne Not. Ein Paar waren sie jedenfalls nicht. Nie gewesen. Und nie geworden. Vater war so früh gestorben. Einfach umgekippt, als ob er nicht den Mut gehabt hätte, von einem seiner langen Waldspaziergänge einfach nicht mehr zurückzukommen. Sie war oft mit ihm unterwegs gewesen. Beobachteten Tiere und sammelten Pilze, die ihnen die Mutter widerwillig zubereitete. Und jede Feder, die sie fanden, stopften sie in einen Beutel, den sie im Frühjahr auf der Wiese ausschütteten. Als Unterstützung für die Schwalben beim Nestbau. Einmal hatte sie dabei sein dürfen. Im Heer von Treibern Knüppel an die Stämme geschlagen. Das Schwarzwild vor die Flinten gescheucht. Im Dickicht die Gewehre der Jagdberechtigten, der Parteimitglieder, seiner Kollegen. Ein Privileg seines Amtes. Parteikreisleitung. Was er wirklich arbeitete, wusste wohl nicht mal ihre Mutter.
    »… Wir leben in einer Wissensgesellschaft, Bildung ist das höchste Gut …«
    Dass immer in Bildung investiert werden sollte. Wer studierte, ging doch sowieso weg. Der Bildungstrieb, das war Zeugung, Ernährung und Reproduktion. Lob der Einehe. Dilemma

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