Der Hals der Giraffe
ganz rot.
»Ach Thiele, wir haben uns doch gegenseitig in die Tasche gelogen. Geleugnet, dass es solche und solche Menschen gibt. Gute und schlechte, faule und fleißige. Man kann einfach nicht aus jedem Bauernkind einen Hochschulprofessor machen. Erziehung ist nicht alles. Von wegen biopsychosoziale Einheit. Wir haben uns die größte Mühe mit den letzten Hoschis gegeben. Die Sommerferien mit denen durchgebüffelt. Alles unbezahlter Nachhilfeunterricht. Aber dass der Sozialismus siegt, das ist eben doch nicht so sicher wie das Fallgesetz.«
Thiele beugte sich vor. »Aber oft hat es eben auch geklappt. Was war mit dieser Meeresbiologin? Die kam doch auch aus so einer Martensfamilie.«
»Nicht ganz so viele Kinder. Dafür mehr Alkohol.« Ausnahme von der Regel.
»Außerdem …« Thiele stand jetzt auf, schob den Stuhl ran. »… wenn nur das, was absolut wasserdicht ist, gelehrt werden darf, dann könnten wir doch alle Schulen dichtmachen.«
»Aber die Mathematik …« Meinhard wieder.
Thiele winkte ab. »Ist ja gut. Du wirst auch noch lernen, dass es im Leben was Wichtigeres gibt als deine blöden Gleichungen. Denn eins kann ich dir sagen: Die Wirklichkeit, das Weltgeschehen ist unberechenbar. Da geht plötzlich irgendwo eine Bombe hoch, und schon stecken wir im nächsten Weltkrieg.«
Er stützte sich mit den Händen an der Stuhllehne ab. Es sah aus, als ob er eine Rede halten wollte. Über ihre Köpfe hinweg. »Uns ging es um die Überwindung bestehender Verhältnisse, um die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsform.«
»Aber die Natur lässt sich nicht überwinden.« Dass er das nicht einsah. Langsam ging er ihr richtig auf die Nerven. Die Arbeiten würde sie wohl später zu Ende korrigieren müssen.
»Wenn sie kapitalistisch ist, schon!« Einfach unverbesserlich. Die Weisheit mit Löffeln gefressen. Je älter die Bullen waren, desto eigener wurden sie.
Meinhard stöhnte. »Mann, ihr seid ja wirklich immer noch voll drin.«
»Sag mal, Freundchen. Wie lange bist du eigentlich schon hier?« Thiele setzte sich jetzt doch wieder. Verhörhaltung.
»Anderthalb Jahre.« Ganz stolz. Als ob das hier Sibiren wäre.
»Und? Wie gefällt es dir in der Zone?«
Das hatte er ihn noch nie gefragt. Warum interessierte ihn das auf einmal?
Meinhard zögerte. War wohl misstrauisch. Kein Wunder.
»Ach, ich weiß nicht. Gut. Sehr gut, meine ich. Ist alles noch nicht so fertig.«
»Siehst du!« Thiele hob den Zeigefinger. Ein alter Schulmeister. »Weil das hier utopisches Land ist.«
Wenn Kommunisten träumen. Wildostphantasien. Jetzt gingen wirklich die Pferde mit ihm durch. Reichtum für alle. Algen aufs Brot. Die Verbrüderung aller Völker. Die Polkappen abschmelzen, die Wüsten bewässern, die Bären zähmen. Das Mittelmeer trockenlegen. Den Krebs abschaffen, das Alter, den Tod. Immerhin war das origineller, als Privatflüge ins All zu versteigern oder Schafe zu klonen. Erst im Frühjahr hatten sie ein Hybrid-Embryo geschaffen. Ein Mischwesen aus Kuh und Mensch, das sie nach drei Tagen und fünf Zellteilungen wieder vernichtet hatten. Der Supermensch war nur eine Frage der Zeit. Man kann dem Geist nicht verbieten, zu denken. Demnächst würden sie wirklich die Köpfe der Klugen auf die Körper der Dummen pfropfen. »Du redest schon wie Kattner.«
»Ach der. Ich sag euch: Kattner wird uns noch alle kaltmachen. Nacheinander. Zum Schluss unterrichtet nur noch er allein.«
Verschwörerblick.
»Ich werde jedenfalls hierbleiben! Bis das Wasser in den Leitungen verfault.«
Er faltete die Zeitung zusammen.
»Und noch was: Das jetzt, hier. Das ist ein kleiner Rückschritt. Aber die kommenden Generationen werden uns recht geben. Die zukünftige Geschichte. Da braucht nur ein bisschen Gras drüberwachsen, und dann wird man sich wieder ranwagen. An eine echte Revolution.« Er lehnte sich zurück. »Mit diesen Lehrbüchern hier kannst du ja nicht arbeiten. Da wird die Wende als Revolution verkauft. Es ist nicht zu fassen. Alles verseucht.«
»Heute wie damals.« War doch wahr.
Thiele stand wieder auf.
»Inge, damals hatten wir einen Grund dazu! Da ging es doch um was. Aber das jetzt … Eine Annexion friedliche Revolution zu nennen. – Revolution! Das musst du dir mal vorstellen.« Jetzt überschlug sich seine Stimme fast. »Dass ich nicht lache. So unblutig, wie das war! Es braucht Gewalt, um wirklich was zu bewegen. Heute hat ja keiner mehr eine Ahnung, was das bedeutet: zu kämpfen. Für ein Land. Für
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