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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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rhesuspositiv. Sie rhesus-negativ. Antikörperbildung. Ein Kind hatte ihnen gereicht. Kleinvieh macht auch Mist. Wolfgangs Worte. Sie hatte ein Souvenir wie die Bernburg nicht nötig.
    »Sie können gehen.«
    Alle stürzten hinaus. Und Erika? Worauf wartete die denn? Sie ging ganz langsam am Lehrertisch vorbei. Als ob sie das mit Absicht machte.
    Fester Blick. Ihre grünen Augen.
    »Danke.« Ganz leise.
    »Bitte.« Sie würde es bestimmt keinem erzählen.
    Im Lehrerzimmer hockte Thiele. Ganz allein.
    »Gar kein Unterricht?«
    Er hob die Hand. Es sah aus, als ob er abwinkte.
    »Nee, ich hab jetzt ’ne Freistunde. Die Zwölf hat heute die ersten beiden Stunden Berufsvorbereitung.«
    Was die da wohl machten? Wahrscheinlich Besuch im Arbeitsamt. Lernen, wie man Hartz-IV-Anträge ausfüllt. Sie warf den Stapel Tests auf den Platz neben ihm. Zuoberst lag Erikas Blatt. Ihre Jungsschrift. Groß und eckig. Kaum Rundungen und Schlaufen. Sie hatte tatsächlich fast alles richtig. Diese Korrektur würde sie sich bis zum Schluss aufheben. Das nächste Blatt. Jakob. Wo war der Rotstift? Thiele konnte einen wahnsinnig machen. Die Zeitung lag vor ihm. Aber er trommelte auf seiner Brotdose und guckte Löcher in die Luft.
    »Und: Was hattest du gerade?« Er wusste nichts mit sich anzufangen. Ein ausgesetztes Tier. Zum Erbarmen.
    »Bio in der Neunten.«
    »Mhm.« Ein Nicken. Er sah wirklich schlecht aus. Kattnerhatte ihm noch vor den Herbstferien sein Kabuff weggenommen. Angeblich war das irgendeine Umnutzungsmaßnahme. Wohl eher eine Umsiedlung. Ohnehin spielte er sich mächtig auf in letzter Zeit. Ihr hatte er verbieten wollen, im Sport die Verlierer an die Tafel zu schreiben. Aber wer sonst sollte nach dem Unterricht die Matten und Geräte wegräumen?
    »Also ich hatte die Elf. Ja, die Elf hatte ich. Allerneueste Geschichte. Grenzt ja schon fast an Sozialkunde. Weißt du, das ist gar keine richtige Geschichte. Geschichte, das muss ordentlich abgehangen sein. War ja alles erst gestern …«
    Jakob fehlten schon zehn von dreißig Punkten. Und sie war erst bei der dritten Frage.
    »Und du?«
    Jetzt rückte er näher, nahm ein Blatt vom Stapel und begutachtete es.
    »Ah, Genetik … Mendel und so.« Er schien irgendwas auf dem Herzen zu haben.
    »Weißt du, was verrückt ist, Inge?« Er legte das Blatt wieder zurück. »Ich hatte gar keine Genetik in der Schule! Nur Mitschurin und Lyssenko.«
    »Ach.« Der Gartengott und der Barfussprofessor. Sprossmutanten und Weizen aus Odessa.
    Die Tür ging auf. Meinhard kam rein. Er nickte und platzierte sich geräuschlos. Erstaunlich, bei seiner Leibesfülle.Thiele breitete die Zeitung aus. Sie schrieb die Note unter die letzte Antwort. Der erste war erledigt. Nächster Kandidat. Tom, dumm wie ein Konsumbrot. Wenn sie sich beeilte, war sie bis zur großen Pause mit der Korrektur durch.
    Thiele fing an zu kichern. »Mitschurin hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält.«
    Das kannte sie auch.
    »Drum essen wir zu jeder Speise, Marmelade eimerweise.« Sie beide, im Chor. Auch so ein Reflex. Bruder Jakob für Jungpioniere. Kinderferienlagerlieder. Die Vierfruchtmarmelade gab es aus Pappeimern. Und Hagebuttentee aus riesigen Kübeln. Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. Das prägte einen fürs Leben.
    »Wir hatten alles. Schulgarten und Mitschurin-Zirkel. Sogar einen Klub der Agronomen.« Er schob seine knochigen Hände über die Tischplatte.
    »Mitschurin, nie gehört. Wer war das denn?« Meinhard kam wirklich aus dem Muspott.
    »Mitschurin hat Hunderte von neuen Obstsorten gezüchtet. Frostfest und ertragreich.«
    Manche sogar wohlschmeckend. Winterbutterbirne. Anderthalbpfündige Antonowka.
    »Ja, der hat einfach alles miteinander gekreuzt.« Thiele, ganz begeistert. »Erdbeeren mit Himbeeren, Mandelbaum und Pfirsich. Sogar Kürbisse mit Melonen. Liebesheiraten von verschiedenen Pflanzenarten! So nannte man das.«
    Von wegen Liebesheirat. Organismen, die zur Kreuzung gezwungen wurden. Zwangsheirat war das. Obst mit Gemüse. Es war geradezu unsittlich.
    »Wisst ihr, wie er gestorben ist?« Thiele grinste schon mal vorsorglich.
    Ganz alter Witz. »Ich weiß. Beim Sturz von einer selbstgezüchteten Erdbeerstaude.«
    »Genau!« Thieles heiseres Lachen. Raucherhusten. Sein Brustkorb bebte.
    Meinhard schien immer noch unbeeindruckt.
    Sie legte den Rotstift beiseite.
    »Mitschurins größter Verdienst war, dass er für jede Nutzpflanze den geeigneten Pfropfpartner gefunden hat.«

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