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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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die richtige Sache. Da müssen Köpfe rollen. Barrikaden brennen.« Er war schon an der Tür. »Was sich heute alles Revolution schimpft, Geschichtsverfälschung ist das!« Unverbesserlich. Letzte Worte. Die Tür schlug zu. Wo wollte er denn hin? Es war noch längst keine Pause.
    Auf dem Schulhof standen alle Spalier. Das ganze Volk, nach Jahrgängen geordnet. Links die oberen, rechts die unteren Klassen. Sie passten alle nebeneinander, an der Linie der brüchigen Gehwegplatten. Wenn es wenigstens nach Größe ginge. Die Lehrer neben den Klassensprechern. Wie zu erwartenwar, hatte Annika die Wahl gewonnen. Sie stand da, gefechtsbereit. Der Rücken ganz durchgedrückt. Immerhin Haltung. Aus ihr wäre bestimmt eine gute FDJ-Sekretärin geworden. Jetzt fehlte nur noch, dass sie sich alle an den Händen fassten, wie bei der dusseligen Menschenkette, die sie damals gebildet hatten, an der B-Sechsundneunzig entlang. Ein großes Kreuz durch die beiden deutschen Länder. Komisch. Sie wusste gar nicht mehr, wofür das gewesen war. Oder wogegen. Spätschaden vom Besuch all der Massenveranstaltungen. Irgendwann verriet nur noch die Blumensorte, ob das jetzt Erster Mai, Republikgeburtstag oder Lehrertag war. Flieder, Dahlien oder Pfingstrosen.
    Da kam ja auch schon der Zeremonienmeister. Kattner trat aus dem Fachgebäude, eilte mit langen Schritten durch den Korridor aus Schülern und Lehrern und stellte sich auf die oberste Stufe vor dem Haupteingang.
    Aus seiner Aktentasche holte er eine Pistole, groß wie ein Damenrevolver, und streckte sie gen Himmel. Das war das Zeichen zum Köpfeeinziehen. Kattners Ansprache ans Volk. Jeden ersten Mittwoch im Monat in der großen Pause.
    Eigentlich wollte er, dass jedes Mal eine kleine Blaskapelle einen Tusch spielte, aber das hatten sie ihm dann doch noch ausreden können. Das fehlte noch. Mit Pauken und Trompeten. Am Ende war er doch ganz begeistert von ihrer Idee gewesen, seine Mittwochspredigt mit einem Schuss aus der Pistole beginnen zu lassen, die sie erst wieder beim Sportfest im Sommer brauchte. Der Knall. Ein Startschuss.
    »Liebe Schülerinnen …« Kunstpause. »… und liebe Schüler.Nicht zu vergessen: Hochgeschätzte Kolleginnen und Kollegen.«
    Immer diese Übertreibungen. Sein Verkäufergrinsen. Rinder verfügten über keine Mimik. Die konnten sich nur mit dem Körper verständigen.
    »Die Schule ist – das liegt in der Natur der Sache – ein Ort des Wandels, der Veränderung …«
    Also doch Fahnenappell. Nur ohne Fahnen. Aber dafür mit viel Appell. Lass hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern.
    »Hier lernen Sie, fremde Sprachen zu beherrschen …«
    Wenn sie die Augen zusammenkniff, war Kattners Kopf nur noch ein heller Punkt vor den Glastüren. Alles sah genau so aus wie der Schuleingang auf den alten Zwanzigmarkscheinen, den kleinen, grünen Lappen. Darauf Kinder, die aus der Schule kommen, fröhlich in den Nachmittag stolpern. Mit kurzen Hosen, Brotdosen und Ranzen, die am Rücken angewachsen scheinen. Die paar Stufen zu den Glastüren. Eine Treppe für Klassenfotos. Claudias Einschulung. Ihre Zahnlücke über der Zuckertüte. Ganz hinten. Dritte Reihe. Groß gewachsen. Ein Sohn wäre ihr lieber gewesen. Manchmal träumte sie von einem kleinen Jungen. Etwa zehn Jahre. Mit traurigen Augen. Vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Wie ein Welpe. Und roch nach Kiefern und Seewind.
    »… Hier lernen Sie den Kanon der überlieferten Kultur und Geschichte kennen.«
    Wo hatte er denn all das abgeschrieben? Hörte überhaupt jemand zu? Meinhards Mondgesicht. Ein Knopf an seinem Trenchcoat war offen. Er sah aus wie eine alte Matrone. Und Thiele stand da, mit hängendem Kopf, wie auf einer Beerdigung. Die Schüler waren erstaunlich ruhig, so angepasst wie noch nie.
    Da kam die Bernburg mit der Zwölf anmarschiert. Sie nahmen Aufstellung. Jeder ein grünes Buch unterm Arm.
    Kattner nahm keine Notiz, redete unbeirrt weiter. »… Hier werden Sie mit naturwissenschaftliche Grundlagen vertraut gemacht.«
    Was war das für ein Geruch? Die Fenster zu den Klos waren geschlossen. Es stank nach Erbrochenem. Buttersäure. Hatte sich einer auf dem Schulhof übergeben? Alkoholvergiftung. Alle Nase lang.
    »Das humanistische Gymnasium ist eine Errungenschaft unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.«
    Humanismus, das war mal ein Schimpfwort.
    Hinter ihm ein großer, weißer Fleck an der Wand. Vom Übertünchen der Gra∞tis. Hauptsache, die Fassade

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