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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Sau im Stroh wie tot. Unter dem Rotlicht drängten sichdie Ferkel an die Zitzen, dicht an dicht. Und immer das Risiko, dass die dicke Mutter eines der Kleinen erdrückte. Überall Tiere und Kinder. Nachbarskinder und Enkelkinder. Kinder und Heu. Kinder wie Heu. Stallgeruch. Nestwärme. Sie klauten den Hühnern die Eier aus dem Stroh und aßen die Kartoffeln, die eigentlich für die Schweine bestimmt waren, direkt aus dem Dämpfer. Steckten dem Kälbchen die flache Hand ins Maul. Der Saugreflex. Schiss vor dem Truthahn. Sein obszöner Kopfschmuck, diese Fleischwarzen. Als ob er sein Geschlechtsteil auf dem Kopf spazieren trug. Zwei Katzen, die meistens trächtig waren. Ihre Jungen ertränkte der Großvater in der Regentonne. Mit einem Stein in einem Sack. Späte Abtreibungen. Sie hatten noch nicht einmal Augen.
    »Wer von Ihnen hat denn ein Haustier?« Das war die Gelegenheit jetzt. Tiere zogen immer noch. Sogar nach der Geschlechtsreife. Aber Fell und Zitzen mussten sie haben.
    Acht Meldungen.
    Nach Schnecken brauchte sie gar nicht erst zu fragen. Hunde und Katzen. Sah man sofort. Der Mensch hatte seinen ärgsten Feind domestiziert. Den Wolf zum hündischen Wesen degradiert. Aus dem Wald ins Körbchen. Ein würdeloser Begleiter. Und weil es ihnen dann mit dieser speicheltriefenden Treue doch zu langweilig geworden war, hatten sie sich auch noch die Katze ins Haus geholt. Dass das überhaupt als Domestizierung durchging. Nur weil ein Tier aus einem hingestellten Futternapf fraß. Das Schnurren war ein Täuschungsmanöver. Eine einzige Provokation auf dem Sofakissen. Kein Wunder, dass der Penis des Katers mit Widerhaken besetzt war.
    Hartnäckiges Fingerschnipsen. Das hatten sie sich so gedacht. Das musste sie jetzt irgendwie abkürzen. Keine Tiersprechstunde heute.



»Aha. Soso. Danke.«
    »Und Sie, Erika?« Sie hatte sich nicht gemeldet. Die ganze Stunde nichts gesagt.
    »Mein Haustier ist gestorben. In den Sommerferien.« Sachlicher Ton. Aber ihr Blick, das hängende Auge. Aus der Zeit gefallen.
    »Achso.«
    Das hatte sie nicht gewollt.
    Erika schaute weg, zog die Schultern hoch. Ein verwundetes Tier. Einen Vorteil hatte die ungeschlechtliche Vermehrung. Sie hinterließ keine Leichen. Pantoffeltierchen waren potenziell unsterblich. Ein einziges Mal durfte sie sich ein Kätzchen aussuchen. Ein schwarzes mit roten Flecken. Das schönste war es gewesen, aber nicht das stärkste. Nach acht Tagen war es tot.
    Themawechsel, jetzt.
    »Vergessen Sie nicht: Es gibt Erbanlagen und Umwelteinflüsse. Der Genotyp ist unveränderbar, aber der Phänotyp kann je nach Lebensbedingung ganz unterschiedlich ausfallen. Wie ein Organismus aussieht, das bestimmt nicht das Erbgut allein. Die DNA liefert nur die Voraussetzungen.« Erbgleiche Bohnen, die auf unterschiedlichen Böden unterschiedlich gut gediehen.
    Eine Meldung.
    »Ja, Tabea.«
    »Das ist ja wie mit dem Horoskop. Es kommt darauf an, was man daraus macht.« Na klar, Sterntaler. Nicht nur dumm, sondern auch vorlaut. Die kam wirklich vom Mond.
    Sie drehte sich weg, zum Fenster. Die Krähen waren verschwunden.
    »Nicht jeder Gedanke verdient es, artikuliert zu werden.« Jetzt umdrehen.
    »Tabea, sollten Sie auf dem Gymnasium bleiben wollen, prüfen Sie bitte in Zukunft, ob Sie wirklich etwas Substanzielles zum Unterricht beizutragen haben.«
    Mitten ins Gesicht.
    »Und zwar bevor Sie den Mund aufmachen.«
    Immerhin war die jetzt mundtot.
    »Und finden Sie Ihre Blutgruppe heraus. Und die Ihrer Eltern. Samt Rhesusfaktor.«
    Das Pausenklingeln.
    »Sie alle, zur nächsten Stunde.«
    Mal sehen, ob wieder ein Kind dabei war, das danach keinen Vater mehr hatte. Sie war auf der sicheren Seite. Stand alles im Lehrplan. Und war lebensnäher, als die Textaufgabe mit den vertauschten Babys auf der Entbindungsstation. Außerdem wurde doch immer Praxisnähe gefordert. Es gab nun mal bestimmte zwingende Eltern-Kind-Zuordnungen. Die Wahrheit war zumutbar. Auch Kindern. Gerade Kindern. So früh es ging. Die Bernburgerin hatte ihr einmal unter die Nase gerieben, dass ihr schöner Sohn gar nicht von ihrem Mann sei. Ins gemachte Nest. Neun Monate einen Keimling mit sich herumzuschleppen, konnte einen sehr sicher machen. Und mächtig. Nicht nur die Fortpflanzung war weiblich, auch der Wissensvorsprung. So schön war der Sohn der Bernburg gar nicht. Eher eine Erinnerung an schöne Stunden. Bei einem zweiten Kind hätte es ohnehin Probleme gegeben. Das hatten sie ihr damals gleich gesagt. Claudia war

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