Der Hase aus Amerika und andere Beziehungskisten (German Edition)
und
da. Sieben Bäume zähle ich. Echte Vögel zwitschern darin. Wir sind stumm vor
Ehrfurcht. Alle!
Die Lehrerin lächelt. Sie sagt aber nichts. Sie lässt uns
lernen, was Bunt ist. Wir lernen Natur kennen. Nicht aus dem Fernseher. Nein,
mit echtem Naturgeruch. Ganz ohne Worte. Nur mit den Sinnen. Wow!
Dabei kenne ich diese Wiese. Ich kenne sie von meinem
Fenster aus. Denn mein Fenster zeigt nicht auf die Siedlung. Es zeigt auf den
Kanal. Und der Kanal ist auch nur auf unserer Seite grau und öde.
Genaugenommen, denke ich, ist der Ausblick aus meinem Fenster ein sehr schöner
Ausblick. Denn man sieht die andere Seite des Kanals. Und die ist bunt und
saftig grün. Noch grüner als meine All Stars. Nur habe ich nie darüber
nachgedacht, dort hinzugehen. Ich wusste gar nicht wie. Dabei musste es einen
Weg geben. Denn inmitten des Grüns steht eine kleine Eisdiele. Manchmal habe
ich gesehen, dass dort Pärchen in der Sonne sitzen.
Genau zu der Eisdiele führt die Lehrerin uns jetzt. „Na?
Jemand Lust auf ein Eis?“, ruft sie. „Na klar!“, brüllen wir im Chor zurück.
Ein total süßer Junge kommt mit Schürze und Stift hinter dem
Ohr auf uns zu. Sein Haar ist fast schwarz und seine Augen haben die Farbe von
Oliven. Beim Lächeln hat er Grübchen. Er ist ganz natürlich, nicht so ein
Macho. Ich schmelze dahin, wie das Eis in meiner Hand. Dabei esse ich ganz
selten Eis. Wir müssen immer sparen.
Ich habe mich mit meinem Eis unter einen der Bäume gesetzt.
Ich glaube, ich habe noch nie unter einem Baum gesessen. Ich fühle mich wie in
einem Traum, in einer anderen Welt, in einem anderen Leben. Ich spüre, wie
jemand sich neben mich ins Gras setzt. Es ist der Eisdielenjunge. Er heißt
Luca. Schulter an Schulter sitzen wir da und betrachten die Blumen. Ich werde
nicht ohnmächtig. Und er labert auch nicht rum. Worte sind gerade überflüssig.
Sein Vater ruft. Luca steht auf, nimmt meine Hand, öffnet
sie, legt zwei Amaretti Kekse hinein und geht. Als ich einen der Kekse in den
Mund stecke, sehe ich den Zettel mit seiner Handynummer. Ich lasse ihn in meine
Jeanstasche gleiten, bevor jemand ihn sieht. Dann ruft auch die Lehrerin. Wir
müssen zurück. Was für ein bunter Tag!
Ich denke an Rita. Schade, dass sie krank ist, denke ich.
Und gut, dass ich gesund bin. Da kann ich ihr wenigstens davon berichten. Ich
werde versuchen, ihr alles in bunten Worten zu erzählen. Bunte Worte sind
positive Worte, hat die Lehrerin uns erklärt. Die sind besser, als unsere
grauen Worte. Wenn wir positive Worte benutzen, dann wird die Welt um uns herum
viel bunter. Egal, wie grau sie auch aussehen mag. Das finde ich schön. Heute
habe ich endlich etwas gelernt in der Schule, womit ich was anfangen kann.
Ich putze mir noch schnell die Zähne und stelle meinen
Wecker so ein, dass mein Lieblingslied mich morgen wecken wird. Dann rufe ich
Rita an. Und wenn ich mich traue, dann vielleicht auch noch Luca.
Viva l’Italia!
Es ist der Sommer 1992. Es ist der 2. August und Marie sitzt
im Wohnzimmer ihres kleinen Appartements. Heute ist ihr erster Arbeitstag nach
dem Urlaub gewesen. Zwei Wochen hatte sie in Italien verbracht, und heute hatte
sie gleich wieder mehr als zehn Stunden im Büro verbracht. Warum auch nicht?
Gab es doch niemanden mehr, der zu Hause saß und auf sie wartete. Ein kleines
Bild auf der Kommode ist die einzige Erinnerung an Holger, die noch übrig
geblieben ist. Maries Blick bleibt kurz darauf hängen, und sie beschließt, es
am Wochenende zu entfernen. Auf dem Tisch ausgebreitet liegen die Urlaubsfotos.
Marie ist dabei sie in ein Fotoalbum einzukleben, als es an der Tür klingelt.
Erschreckt blickt sie auf. Dann fällt es ihr wieder ein:
Peter hatte am Nachmittag im Büro angerufen und ihr mitgeteilt, dass er am
Abend vorbeischauen werde, um sie Willkommen zu heißen. Sie öffnet die Tür und
schon streckt Peter ihr einen Strauß bunter Blumen entgegen. Er freut sich,
dass Marie wieder da ist, umarmt sie und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn.
Marie kennt Peter schon so lange, sie denken kann. Sie waren
zusammen im Kindergarten, in der Schule besuchte er die Parallelklasse.
Unzählige Male hatte er sie beschützt und ebenso oft hatte sie sich später an
seiner Schulter ausgeweint. Auch vor Maries Urlaub war er gekommen. Ja, er war
es gewesen, der sie überhaupt dazu überredet hatte, mal wieder Urlaub zu
machen. Geduldig hatte er all die Monate, in denen Marie mit diesem
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