Der Hausflug
ihm glaubte, wahrscheinlich mußte er es einfach jemandem erzählen; wer etwas Außergewöhnliches erlebt hat, muß darüber sprechen, oder es zerreißt ihn eines Tages, und ich war gerade der richtige Zuhörer für ihn; mir jedoch konnte er ohne schlimme Folgen erzählen, was immer er wollte.
„Ich kann es ja mal versuchen“, meinte er, „du bist nicht richtig erwachsen…“, er nickte zu unseren Angeln hinüber, und wir schmunzelten beide. „Du wirst mich nicht auslachen, oder?“
„Bestimmt nicht“, versprach ich.
So erfuhr ich seine wahrlich unglaublichen Erlebnisse. Sicher auch, weil ich Zeit für ihn hatte, weil ich geduldig zuhörte, nie drängelte, kaum Fragen stellte. Ich ließ Jonas erzählen, und wenn ich nach Hause kam, schrieb ich alles auf. Das Manuskript, das ich eigentlich abliefern sollte, mußte warten.
Ich gebe zu, anfangs glaubte ich, daß Jonas sich seine Abenteuer nur ausgedacht hätte, doch ich verurteilte ihn nicht, im Gegenteil. Was für eine tolle Phantasie, dachte ich. Beneidenswert. Der Junge hat ein Talent zum Erzählen, der wird sich später die spannenden Bücher nur so aus dem Ärmel schütteln. Ich sagte ihm, daß er der geborene Schriftsteller sei.
„Denkst du, ich spinne?“ Jonas blickte mich mit traurigen Augen an.
„Und wenn schon“, sagte ich. „Wenn einer es so gut kann…“
„Ja, du!“ schrie er. „Du bist von Berufs wegen ein Spinner.“
„Ja“, bestätigte ich, „und aus Neigung. Meine Mutter hat mir immer prophezeit, daß es mal ein schlimmes Ende mit mir nehmen wird, weil ich schon als Kind so gerne Geschichten erfand, und nun bekomme ich Geld dafür, daß ich spinne.“
„Es ist aber die Wahrheit“, rief Jonas verzweifelt.
„Ich glaube dir ja“, versicherte ich. Ich weiß es doch: Auch eine Geschichte, die man sich ausgedacht hat, kann wahr sein. Von nun an jedoch stellte ich Jonas, ohne daß er es mitbekam, ein paarmal auf die Probe und merkte, daß er nicht mehr Phantasie besaß als andere Jungen seines Alters. Und ich stellte Kontrollfragen, wälzte dann zu Hause schlaue Bücher, erkundigte mich telefonisch bei Fachleuten und mußte erkennen, daß Jonas Einzelheiten wußte, die er eigentlich nicht kennen konnte – es sei denn, er hatte das alles tatsächlich erlebt!
Eines Tages gestand ich ihm, daß ich nicht nur aufmerksam zuhörte, sondern seine Abenteuer aufschrieb. Ich bot ihm an, die Geschichte meinem Verlag einzureichen. Zuerst lehnte er ab. Alle Welt, so meinte er, würde ihn als Lügner hinstellen. Schließlich willigte er ein, daß ich sie veröffentlichte, ohne seinen Namen zu verraten. Geld wollte er nicht.
„Wie soll ich Vater erklären, daß ich plötzlich viel Geld habe?“ sagte er. „Vater bohrt so lange, bis ich ihm Antwort gebe. Und da er die Wahrheit nicht glauben würde, müßte ich mir eine Lüge für ihn ausdenken. Ich will ihn aber nicht belügen. Mein Vater ist nämlich prima.“
„Und deine Mutter?“
Jonas schwieg betreten. Seine Eltern waren geschieden, doch das sagte er mir erst später. Ich wartete, bis er von allein darüber sprach – ich finde, jeder Mensch hat ein Recht darauf, nur dann über etwas zu sprechen, wenn er selbst es will.
Wir einigten uns darauf, daß ich das Honorar für ihn aufhebe, bis Jonas achtzehn ist. Oder bis Xindy eine Nachricht schickt. Oder zurückkommt. Oder sein „Abschiedsgeschenk“ sichtbar wird… so lange also, bis klar erwiesen ist, daß diese unglaubliche Geschichte nicht der Phantasie eines zwölfjährigen Jungen entsprungen ist, sondern er sie wirklich erlebt hat.
Das erste
Das fremde Haus – Eingesperrt
Merkwürdige Träume
Die Geschichte beginnt an einem Montag im Frühling – am ersten Ferientag –, das heißt, eigentlich ist noch gar nicht richtig Montag: Der Mond steht noch am Himmel, und die Sonne färbt gerade einen ersten Strich Wolken rosa, um ihr Kommen anzukündigen. Es ist auch nicht richtig Frühling, ja, auf dem Kalender, doch in der vorigen Woche hat es noch geschneit, und es ist viel zu kalt für die Jahreszeit. Und richtige Ferien sind eigentlich auch noch nicht. Ferien, so findet Jonas, beginnen erst montags um acht Uhr; am Sonntag hat er doch ohnehin frei.
Vielleicht ist Jonas das alles überhaupt nur passiert, weil es so zwischendurch anfing: zwischen Nacht und Tag, zwischen Wochenende und Wochenanfang, zwischen Winter und Frühling, zwischen Schulzeit und Ferien – in den Grenzgebieten, so hat neulich ein berühmter
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