Der Hausflug
eine angefangene Packung Würfelzucker und eine Flasche Himbeersirup. Im Kühlschrank war nichts außer einer Flasche Cola und zwei Flaschen Bier. Im Wohnzimmer entdeckte Jonas noch eine Tüte Bonbons – Eukalyptusbonbons, die er nicht ausstehen konnte – und unter den Betten eine angerissene Packung Zigaretten.
Jetzt erst sah er, wie verlassen das Haus wirkte. Die Betten waren nicht bezogen, auf den Tischen lagen keine Decken, in den Schränken kaum Wäsche, und aus den Wasserhähnen kam kein Tropfen. Es gab ein paar Bücher, aber weder Radio noch Fernseher, und der große Spiegel im Wohnzimmer hätte längst mal wieder geputzt werden können.
Klar, sagte sich Jonas, es ist ein Urlaubshaus, und über den Winter hat es leer gestanden. Bestimmt haben die Besitzer nur vergessen, den Rest aus dem Kühlschrank zu räumen. Vater hatte doch auch im vorigen Sommer Wurst und Butter im Kühlschrank des Ferienbungalows liegengelassen.
Jonas setzte sich an den Küchentisch und starrte auf seine kärglichen Vorräte. Nicht gerade üppig für einen Tagesausflug. Nein, unmöglich. Am schlimmsten würde der Durst werden. Das wußte er doch von Winnetou: Ein Mann kann tagelang leben, ohne etwas zu essen, aber er muß trinken: Die eine Flasche Cola würde nicht lange reichen. Bier? Jonas hatte noch nie Bier getrunken. Am Ende wurde er besoffen davon und hatte nichts von dem Flug. Er hätte heulen können, doch er kämpfte seine Tränen nieder. Nur keine Panik. Tief Luft holen, bis zwanzig zählen und nachdenken. Wenn sie unsichtbar waren, konnte er ohne Risiko landen und einkaufen.
„Villa“, rief Jonas, und als das Haus nicht gleich antwortete, noch einmal, lauter: „Villa!“
„Ja, was ist?“
„Heute früh habe ich dich gesehen, und jetzt sind wir unsichtbar – nur wenn wir fliegen, oder kannst du das machen, wie du willst?“
„Ja, kann ich. Warum?“
„Wir müssen noch einmal landen, ich will aber nicht, daß uns jemand sieht, verstehst du?“
„Verstehe ich gut. Und warum willst du landen?“
„Im ganzen Haus gibt es nichts zu essen, vor allem nichts zu trinken. So kann ich unmöglich bis nach Afrika fliegen.“
„Einverstanden. Ich gehe tiefer. Du sagst mir dann, wie ich fliegen muß, ja?“
Das Haus sank durch die Wolken. Aber wo befanden sie sich? Von oben sah die Erde ganz anders aus. Direkt unter ihnen führte eine Autobahn durch dichten Wald. Welche? Jonas erschrak. Vielleicht waren sie schon Hunderte von Kilometern von zu Hause entfernt? In einer Gegend, die er überhaupt nicht kannte? Ruhe, nachdenken. Eine Autobahn führt immer zu einer Stadt. Und am Stadtanfang steht ein Ortsschild. Noch einfacher: Sie mußten nur die Autobahn entlangfliegen, bis ein Ausfahrtsschild kam.
„Halte dich an die Straße unter uns“, sagte Jonas. „Fliege so tief, daß ich die Schilder erkennen kann. Ich weiß nicht, wo wir jetzt sind.“
„Aber wo Afrika liegt, das weißt du?“
„Das weiß ich“, sagte Jonas. „Immer nach Süden, über die Alpen und das Mittelmeer, dann stoßen wir direkt auf Afrika, und Süden…“
„Danke, das weiß ich selbst“, sagte Villa.
Sie flogen die Autobahn entlang, mindestens doppelt so schnell wie die Autos und so dicht über den Dächern, daß Jonas Angst bekam, sie würden hinter einer Kurve mit einem der großen Lastkraftwagen zusammenstoßen. Er bat Villa, ein bißchen höher zu gehen.
Plötzlich mußte Jonas lachen. Wenn sie sich jetzt auf eines der Autos setzten und dann sichtbar machten… ein Haus auf dem Dach eines Pkw! Wenn sie nicht aufsetzten, sondern sich nur dicht über dem Dach hielten, würde der Fahrer es nicht einmal merken. Jonas stellte sich vor, wie die Leute in den anderen Autos Mund und Augen aufrissen. Ein entgegenkommender Polizeiwagen würde wenden, einfach den Mittelstreifen überfahren, würde mit Blaulicht und Sirene die Verfolgung aufnehmen, um das Auto mit der seltsamen Dachlast zu stoppen, doch die war mit einem Mal verschwunden. Spurlos.
Er wollte Villa schon bitten, sich dicht über dem Dach eines kleinen knallroten FIAT zu halten, er hatte den Mund schon geöffnet, da blieben ihm die Worte im Halse stecken. Die Idee war tatsächlich total verrückt. Die Autofahrer würden erschrecken, sich umdrehen, nicht mehr auf den Verkehr aufpassen, aufeinanderfahren, zusammenstoßen, Dutzende von Autos, eine Massenkarambolage mit vielen Verletzten, vielleicht sogar Toten. So, wie neulich bei dem Glatteis. Er hatte es im Fernsehen gesehen,
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